Dorothea Maetzel-Johannsen
Liegender Knabe mit Reh, 1923-1924
Dorothea Maetzel-Johannsen stammte aus Lensahn in Ost-Holstein. Im Jahr 1903 wurde sie auf der »Gewerbeschule für Mädchen« in Hamburg als Zeichenlehrerin ausgebildet. Nach ihrer Eheschließung mit dem ebenfalls malerisch tätigen Hamburger Architekten Emil Maetzel setzte sie ihre Arbeit als Künstlerin fort. Die beiden gehörten zu den Begründer*innen der Hamburgischen Sezession und zählten zu deren engagiertesten Mitgliedern.
Auf Anregung von Oberbaudirektor Fritz Schumacher erteilte Gustav Pauli, Direktor der Hamburger Kunsthalle, im Jahr 1923 Maetzel-Johannsen den Auftrag, eine Reihe von Wandbildern für den Vorraum des großen Vortragssaals anzufertigen. Die Künstlerin entwickelte das Bildprogramm für vier als Friese konzipierte schmale Rechtecke und ein Sechseck selbstständig; in ihnen brachte sie ihr motivisches und malerisches Interesse zur Anschauung.
Das Modell für "Liegender Knabe mit Reh" war der damals 18-jährige Ernst Buchholz. Der junge Mann liegt mit nackten Beinen und bloßen Füßen in entspannter Haltung an einem Strand. Seine linke Hand ist zum Gesicht geführt, die rechte schlingt er um ein Reh, das sich an ihn schmiegt. Beider Köpfe wenden sich einander in stummem Austausch zu. Formale Übereinstimmungen setzen die Bildgegenstände zueinander in Beziehung. So korrespondieren die Ohren des Rehs mit dem Blattwerk auf der linken Seite. Die Kopfform des Tieres verbindet sich anschaulich mit dem Kinn, dem abgeknickten Handgelenk, den Knien und Fersen des Jungen. Es entsteht innerbildliche Harmonie, und auch die zarte, gedämpfte Farbigkeit unterstützt die Atmosphäre der Verbundenheit.
Im Krisenjahr 1923 entwarf Maetzel-Johannsen die Utopie einer friedvollen Schöpfung, in der Mensch, Tier und Natur miteinander im Einklang sind. Auch in den vier weiteren Gemälden ließ die Künstlerin Denk- und Inspirationsräume entstehen. Sie enthalten Verweise auf Literatur und fremde Kulturen, zeigen aber auch Orte des Rückzugs und der Kontemplation. Mit diesem Bildprogramm konnte der Eingangsbereich des Vortragsraums als Gegenwelt zum Zeitgeschehen erlebt werden, die fortdauernde Gültigkeit beanspruchen durfte. In diesem Saal fanden nicht nur die Gründungsveranstaltungen, sondern auch die prominent besetzten Vorträge der Freunde der Kunsthalle statt. Ihr Anspruch auf Volksbildung auf der Basis kultureller Werte entsprach Dorothea Maetzel-Johannsens ambitionierten Bildideen.
Gabriele Himmelmann