Anita Rée
Selbstbildnis, 1930
Immer wieder erkundete Anita Rée zeichnend und malend das eigene Ich. In zahlreichen Werken nutzte sie das ganze Potenzial von Farbe, Form und Komposition, um ihre komplexe Persönlichkeit auszudrücken.
In diesem späten Selbstbildnis zeigt sie sich im Brustbild vor einem leuchtend gelbgrünen Hintergrund: Ihre Nacktheit mutet zugleich stark und verletzlich an, die gekreuzten Arme wirken beschützend. Mit der zum Kinn erhobenen Hand setzte Rée aber auch die seit der Antike bekannte Gebärde der Melancholie ein und inszeniert sich damit als intellektuelle, mit der aktuellen Forschung vertraute Künstlerin: Zu ihrem Hamburger Umfeld gehörten die Kunsthistoriker Erwin Panofsky und Fritz Saxl. Gemeinsam hatten sie 1923 ein Buch über Albrecht Dürers berühmten Kupferstich »Melencolia I« verfasst und den Zusammenhang von Schwermut und Genie erläutert. Rées fragender Blick im Bild richtete sich aber auch auf die eigene Identität als Mensch, Frau und Künstlerin sowie auf ihre Herkunft. Mit dem warmen Hautton und den dunklen, mandelförmigen Augen galt die Hamburgerin mit jüdischen Vorfahren und südamerikanischen Wurzeln als exotische Erscheinung, und sie hob diese Andersartigkeit häufig hervor.
Rées Selbstbildnis entstand auf der Höhe ihres Erfolgs. Unmittelbar nach seiner Entstehung wurde es auf einer Ausstellung in Stockholm gezeigt und von der Hamburger Kunsthalle erworben. Drei Jahre später nahm sich Anita Rée auf Sylt das Leben; die von den Nationalsozialisten erzwungene Auflösung der Hamburgischen Sezession erlebte sie nicht mehr.
Karin Schick