Jean-Baptiste Camille Corot
Sinnendes Mädchen / Die Meditation, um 1855/60
Die Dreiviertelansicht einer jungen Frau oszilliert zwischen Porträt und Genrestück. Vincent Pomarède prägte für diese nicht unbedeutende Anzahl figurativer Darstellungen in Corots Œuvre in den 1990er-Jahren den Begriff der „Fantasiefigur“. Es handelt sich hierbei um Abbildungen von idealisierten, entpersonalisierten Figuren in meist kontemplativer und introspektiver Haltung, die als reine Emotionsträger und Sinnbilder für Melancholie, Poesie oder Empfindung verstanden werden. Die junge Frau sitzt gedankenverloren vor einer nicht weiter definierten Landschaft. Trotz der nahe ins Bild gerückten Position bleibt ihre Körperhaltung geschlossen. Zwar ist der Blick der Frau klar gerichtet, gleichsam scheint sie aber auch in Träumereien versunken zu sein. Corots Figur evoziert eine physische Abwesenheit. So wird die Dargestellte selbst zur Projektionsfläche und lädt den Betrachtenden dazu ein, offen gebliebene Fragen mit Hilfe des Empathievermögens und der eigenen Imagination zu füllen.
Amelie Baader