Emanuel de Witte

Die Oude Kerk in Amsterdam, 1659

In den Jahren 1659 bis 1661 dokumentierte de Witte die Architektur der Amsterdamer Oude Kerk Abschnitt für Abschnitt in Form von mehreren Ölgemälden. Dabei variierte er jeweils leicht den Betrachterstandpunkt. Im Hamburger Bild geht der Blick vom südlichen Querhausarm durch die Vierung zum nördlichen Arm des Querhauses. De Witte erfasste die Architektur der Vierungspfeiler, Arkaden- und Obergadenwände, Deckengewölbe sowie die noch heute existierenden Glasfenster mit biblischen Szenen sehr genau und perspektivisch exakt. Der Künstler, der vermutlich von seinem Vater in die Regeln der Geometrie eingewiesen worden war, legte sein Augenmerk aber auch auf die Lichtreflexe, die Ausstattung und das Treiben in der Kirche. Die beiden ins Gespräch vertieften Männer im Bildvordergrund, das Liebespaar links, ein vor einem Mann mit erhobenem Stock fliehendes Kind sowie mehrere Hunde bilden innerhalb des Kirchenbildes verschiedene Genreszenen, die nicht nur als Staffage dienen, sondern der Architekturdarstellung auch Lebendigkeit verleihen.

Anna Heinze
Durch die Vierung der Oude Kerk geht der Blick zum nördlichen Querhaus mit seinem großen Fenster, durch das diffus ein hohes Bauwerk zu erkennen ist. Zwei hölzerne Zugstangen betonen die Breite des Raumes. Hinter den hellbeschienenen Obergadenwänden öffnen sich die Kapellen des Seitenschiffs und die des Chorumgangs mit der Snijders- und der Marienkapelle.
Die Glasfenster, nach Entwürfen von Lambert van Noord und Dirck Crabeth 1555 von den Glasmachern Digman Meynaert und Hans Scrivers ausgeführt, blieben vom Bildersturm verschont und befinden sich noch heute dort.(Anm. 1) Im ersten Fenster ist der Engel Gabriel aus der Verkündigung an Maria zu erkennen, darunter die Bildnisse der Stifter; rechts vom Vierungspfeiler sieht man die Begegnung Marias mit Elisabeth. Die Anbetung der Hirten und der Tod Mariens ganz rechts sind nur schwer zu identifizieren.(Anm. 2) Das Glasfenster in der Weitskopeskapelle links vom Querschiff zeigt möglicherweise eine Gerichtsszene. Weitere Glasmalereien befinden sich im Chor. Die Fassung des Glases oben rechts im Langhaus wurde in die nasse Farbe eingeritzt. Durch die farbigen Glasfenster dringt warmes Licht in den Innenraum, das von den Orgelpfeifen, den Messingleuchtern und den Verstrebungen der Chorschranke rechts reflektiert wird; Sonnenstrahlen fallen auf die Steinplatten im Vordergrund.
Durch die geöffnete Chorschranke tritt eine Gruppe von Frauen in das Querhaus, im Vordergrund sind zwei ältere Männer in ein Gespräch vertieft. Auch die übrige Kirchenausstattung der Oude Kerk ist mit großer Sorgfalt wiedergegeben, etwa das Epitaph für Admiral Cornelis Johannesz, gen. De Haan, am rechten vorderen Vierungspfeiler,(Anm. 3) das 1681 abgebrochene Chorgitter und die kleine Orgel im Seitenschiff. Die von Hendrik Niehoff 1544/45 erbaute Orgel war um 1657 durch eine neue Orgel von Hans Wolff Schonat ersetzt worden, die hier im geöffneten Zustand gezeigt ist.(Anm. 4) Die Messingleuchter stammen von dem Kupfergießer Joost Gerritz; 1642 hatte dieser den Auftrag erhalten, 15 Leuchter für die Oude Kerk anzufertigen.(Anm. 5)
Inv. 202 gehört zu jenen Kirchenbildern De Wittes aus den Jahren 1659 bis 1661, in denen die Oude Kerk Ausschnitt für Ausschnitt in streng bildparalleler Anordnung der Architektur festgehalten ist. Auf einem Gemälde, ehem. Slg. Cramer, wurde der Blickpunkt nur geringfügig nach rechts verschoben; es entstand vermutlich vor 1658, da noch die Orgel von Hendrik Niehoff zu sehen ist.(Anm. 6) 1661 malte De Witte das Bild im Historischen Museum Amsterdam. Er wählte dort einen Standpunkt näher an den Vierungspfeilern; die nahezu verdoppelte Höhe erlaubte die vollständige Wiedergabe des Obergadens.(Anm. 7) Wohl ebenfalls 1659 entstand die Ansicht des Langhauses in der Slg. Carter.(Anm. 8) Die beiden im Gespräch vertieften Männer sind auf dem Stuttgarter Bild der Oude Kerk von 1660 spiegelbildlich wiederholt.(Anm. 9)

Thomas Ketelsen 2001

1 B. Bijtelaar, De geschilderde glazen van de Oude Kerk te Amsterdam, in: Oud Holland 71, 1956, S. 207 f.; zum Kirchenbau s. A. van Rooijen, De Oude Kerk te Amsterdam in vogelvlucht, Amsterdam 1985.
2 Manke 1963, S. 41, Anm. 3; Bijtelaar 1956 (wie Anm. 1),
S. 207 f.
3 Vgl. Manke 1963, Abb. 32.
4 J. van Biezen, Het Nederlandse Orgel in de Renaissance en Barok, in het bijzonder de School van Jan Covelends, 2 Bde., Utrecht 1995, Bd. 2, S. 467-472.
5 Lunsingh Scheurleer 1979, S. 85.
6 Lw., 64,5 x 72,5 cm, Privatslg.; Manke 1963, S. 92, Kat. 62, Abb. 31; Ausst. Kat. Holländische Kirchenbilder 1995, S. 56 f., Nr. 20; zur Orgel s. Biezen (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 181, Abb.,
Bd. 2, S. 467.
7 Lw., 129 x 149 cm, Amsterdams Historisch Museum, Leihgabe der Oude Kerk; Manke 1963, S. 89, Nr. 50, Abb. 50.
8 Holz, 46 x 56,2 cm, Slg. Mr. und Mrs. Edward William Carter; A Mirror of Nature, bearb. v. J. Walsh, Jr., C. P. Schneider, Ausst. Kat. County Museum of Art, Los Angeles u. a. 1992, S. 117-119, mit Hinweis auf Inv. 202 (Anm. 6, 9).
9 Lw., 86,5 x 107 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Inv. 2796; Manke 1963, S. 95, Nr. 75; Alte Meister. Staatsgalerie Stuttgart, bearb. v. R. Klapproth u. a., Stuttgart 1992, S. 474-476. Die beiden Alten auch auf dem Kirchenbild, Lw., 80,5 x 100 cm, Verst. New York (Christie's), 12. 1. 1996, Nr. 197.

Ausst.: Holländische Kirchenbilder, Hamburger Kunsthalle 1995, S. 54 f., Nr. 19.
Lit.: Bode 1886, S. 47 f.; Hans Jantzen, Das niederländische Architekturbild, Leipzig 1910, S. 241, Nr. 624, Abb. 60; Wilhelm Bode, Emanuel de Witte, in: Zeitschrift für bildende Kunst N. F. 27, 1916, S. 159; Katalog 1918, S. 189; Katalog 1921, S. 196 f.; Clotilde Brière-Misme, Un petit maître hollandais, Emanuel de Witte, in: Gazette des Beaux-Arts 65/1, 1923, S. 145, Abb.; Katalog 1930, S. 186 f.; Arnoldus Noach, Het material tot de geschiedenis der Oude Kerk te Amsterdam, Amsterdam 1937, S. 81 f., Nr. IV; E. P. Richardson, De Witte and the Imaginative Nature of Dutch Art, in: Art Quarterly 1, 1938, S. 9, Abb. 3; Katalog 1956, S. 171 f.; Ilse Ruth Manke, Emanuel de Witte, Amsterdam 1963, S. 41, 94, Nr. 70; F. W. Heckmanns, Pieter Jansz Saenredam. Das Problem seiner Raumform, Recklinghausen 1965, S. 43 f., Abb. 26; Katalog 1966, S. 179; Hans Jantzen, Das niederländische Architekturbild, 2. Aufl., Braunschweig 1979, S. 106, Nr. 551; Lunsingh Scheurleer, Koperen kronen en waskaarsen voor Japan, in: Oud Holland 93, 1979, S. 85, Abb. 19; Alan Chong, Johannes Vermeer. Gezicht op Delft, Bloemendaal 1992, S. 30, Abb. 12.

Details zu diesem Werk

Öl auf Leinwand cm x cm (Bild) 84cm x 99cm (Rahmen) Hamburger Kunsthalle, erworben aus der Sammlung Hudtwalcker-Wesselhoeft, 1888 Inv. Nr.: HK-202 Sammlung: Alte Meister © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

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