Pieter Lastman

Abrahams Abschied von Hagar und Ismael, 1612

Da die Ehe mit Sara kinderlos blieb, bekam Abraham mit der ägyptischen Magd Hagar den Sohn Ismael. Als Sara hochbetagt den Sohn Isaak gebar, forderte sie Abraham auf, Hagar und Ismael wegzuschicken, damit das Kind der Magd nicht erbberechtigt sei. Lastman zeigt den Moment des Abschieds, als Abraham Mutter und Sohn Brot und einen Wasserkrug als Wegzehrung reicht. Der Vater legt die rechte Hand segnend auf den Kopf des weinenden Sohnes Ismael, mit der linken greift er nach der Hand Hagars, die flehend ihre Arme ausbreitet. Links in der Ferne steht Sara mit Isaak auf dem Arm vor einem Gehöft und beobachtet die Szene. Eine Magd melkt eine Kuh, weitere Gehilfen kümmern sich um das Vieh. Ein verfallener Rundtempel befindet sich auf der Anhöhe dahinter. Rechts öffnet sich vor einem Bergmassiv eine Flusslandschaft mit einer Brücke, die zu einer weiteren Ansiedlung führt. Zweifellos lassen sich in Lastmans Lichtführung die Einflüsse Adam Elsheimers und Caravaggios erkennen, deren Werke er ab 1602 während seiner fünfjährigen Italienreise studierte.

Sandra Pisot
Abraham hat die rechte Hand segnend auf das Haupt seines weinenden Sohnes Ismael gelegt, die andere umfaßt den Arm Hagars, die sich mit klagender Gebärde ihm zuwendet. Das Kind hat Brot und Wasserflasche als Proviant dabei. Nachdem Abrahams Frau Sara in hohem Alter noch einen Sohn, Isaak, geboren hatte, verstieß er Ismael und dessen aus Ägypten stammende Mutter Hagar. Dargestellt ist der Augenblick des Abschieds: »Da stand Abraham des Morgens früh auf und nahm Brot und einen Schlauch mit Wasser und legte es Hagar auf ihre Schulter, dazu den Knaben, und schickte sie fort« (1. Mose 21,14).1 In der Ferne sind links Sara mit Isaak auf dem Arm sowie Gehilfen und Vieh vor einem Gehöft mit Torbogen zu sehen. Darüber erhebt sich ein antiker, halbzerfallener Rundtempel, den Bol als Grabmal deutet. Rechts geht der Blick über eine südländische Flußlandschaft mit steinerner Brücke, weiteren Ansiedlungen und einem Felsmassiv mit antikisierender Tempelarchitektur.
Die Verstoßung der Hagar gehört neben ihrer Flucht während der Schwangerschaft (1. Mose 16,6-14) für die sog. Prä-Rembrandtisten (neben Lastman etwa Jacob Pynas, Jan Pynas, Claes Moeyaert, Jan Tengnagel) zu den am häufigsten dargestellten Themen aus dem Alten Testament. Lastman behandelte es in seinen Zeichnungen und Gemälden mehrfach. Eine Zeichnung in Bremen wurde von Hamann als Vorstufe für Inv. 191 bezeichnet;2 eine Zeichnung in Hamburg dagegen, die die Gruppe bis in alle Einzelheiten wiedergibt, bestimmten Hamann und Bauch als Nachzeichnung von fremder Hand.3
Ein weiteres Gemälde Lastmans mit der Verstoßung der Hagar wurde 1775 in Utrecht versteigert.4 Eine auf beiden Seiten leicht angeschnittene, vermutlich nicht eigenhändige Wie- derholung von Inv. 191 befand sich 1929 im Kunsthandel. Ismael trägt dort Hosen und Sandalen.5 Die Figur der Hagar hat Lastman mehrfach verwendet, leicht abgewandelt kommt sie auf dem Gemälde Ruth schwört Naemi die Treue von 1614 vor.6
Lastmans Schüler und Nachfolger haben die Figurenkomposition wiederholt übernommen. Rembrandts Kreidezeichnung in der Albertina geht vermutlich auf Inv. 191 zurück, sie wird um 1635-1637 datiert.7 Auch Ferdinand Bol und Gerbrand van den Eeckhout lehnten sich in Zeichnungen und Gemälden eng an Lastman an.8 Die Figur des Abraham erscheint unverändert auf einem heute Barent Fabritius zugeschriebenen Gemälde, auch in der Landschaft folgt das um 1650 entstandene Bild der Hamburger Komposition.9 Jan Pynas hat sich ebenfalls, vermutlich in Kenntnis von Lastmans Gemälde, mit dem Thema beschäftigt; seine Verstoßung der Hagar in Aachen entstand 1613, ein Jahr später die Fassung in Amsterdam.10
Ein 1616 von Abraham de Koning verfaßtes Theaterstück mit der Geschichte Hagars deutet auf die weite Verbreitung dieses Themas hin.11 Typologisch galt Hagar als Verkörperung des Alten Bundes, Sara als die des Neuen Bundes.

Thomas Ketelsen 2001

1 Zum Thema s. Hamann 1936, S. 471-579; Im Lichte Rembrandts 1994, S. 30 f.
2 200 x 162 mm, Kupferstichkabinett, Kunsthalle Bremen,
Inv. 2042; Hamann 1936, S. 481, Abb. 14.
3 322 x 304 mm, Kupferstichkabinett, Hamburger Kunsthalle, Inv. 1930/68; Hamann 1936, S. 483 f., Abb. 17; Bauch 1952/53, S. 229. Müller[-Hofstede] 1929, S. 55 f., Abb. 8, sprach sich noch ohne Kenntnis von Inv. 191 für die Eigenhändigkeit aus.
4 45,7 x 63,8 cm, Verst. Slg. J. D. Baron d'Albaing Giesenburg, Utrecht (Pauw), 26. 10. 1775, Nr. 16; s. K. Friese, Pieter Lastman. Sein Leben und seine Kunst, Leipzig 1911, S. 34, Nr. 8a. Ein Gemälde von »Wasmann« (Lastman?) mit der Darstellung der Hagar wurde in einem Inventar der Witwe von Claes Andriesz van der Maas, gestorben in Leiden am 25. 6. 1651, verzeichnet; Friese 1911, S. 34, Nr. 8.
5 Kunsthandel London 1929, erworben von Dr. van Hengel, Arnheim; Müller[-Hofstede] 1929, S. 58 f., Anm. 1, S. 74,
Abb. 19a; Hamann 1936, S. 484, Abb. 18. Eine Nachzeichnung der zentralen Gruppe befindet sich im Museum der bildenden Künste, Leipzig; Hamann 1936, S. 484, Abb. 19.
6 Lw., 56,5 x 88,8 cm, Landesgalerie Hannover, Inv. PAM 970; Katalog Hannover 2000, S. 236-238, Nr. 111.
7 Schwarze Kreide, 193 x 150 mm, Graphische Sammlung Albertina, Wien, Inv. 8766; Hamann 1936, S. 472, Abb. 1;
O. Benesch, The Drawings of Rembrandt, 4 Bde., London/New York 1973, Bd. 2, S. 106, Nr. 447, Abb. 537; Niederländische Zeichnungen des 17. und 18. Jahrhunderts, bearb. v. E. Pokorny, Ausst. Kat. Graphische Sammlung des Stadtmuseums Linz-Nordico 1993, S. 46 f., Nr. 15A, mit Abb. 15 Aa des Hamburger Bildes. Zu Rembrandts Auseinandersetzung mit dem Thema der Verstoßung Hagars s. P. Schatborn, Tekeningen van Rembrandt, zijn onbekende leerlingen en navolgers, Amsterdam 1985,
S. 88 f., Nr. 40, mit Hinweis auf das Blatt in Wien und auf
Inv. 191.
8 Vgl. etwa die Bol zugeschriebene Zeichnung Die Verstoßung der Hagar, 240 x 333 mm, Graphische Sammlung Nordico-Museum der Stadt Linz, Inv. S V/344; Schätze der Zeichenkunst, bearb. v. Chr. Ekelhart u. a., Ausst. Kat. Graphische Sammlung des Nordico-Museum der Stadt Linz 2000, S. 204,
Nr. 93, mit Hinweis auf Inv. 191 (Abb. 93a). S. Eeckhouts Verstoßung der Hagar, 111 x 119 mm, Teyler Museum, Haarlem, Inv. P 61; The Dutch Drawings in the Teyler Museum. Artists born between 1575 and 1630, bearb. v. M. C. Plomp, Haarlem
u. a. 1997, S. 140, Nr. 125, mit Hinweis auf Inv. 191. Ebenso Die Verstoßung der Hagar, Lw., 54,6 x 68,6 cm, dat. 1666, North Carolina Museum of Art, Raleigh, Inv. 52.9.39; Sumowski, Bd. 2, 1983, S. 739, Nr. 458, mit Hinweis auf Inv. 191.
9 Lw., 107,5 x 107,5 cm, M. H. de Young Memorial Museum, San Francisco, Inv. 50.34; Sumowski, Bd. 2, 1983, S. 915,
Nr. 547; Rembrandt 1991, S. 380-383, Nr. 81.
10 Lw., 84 x 109 cm, Suermondt Museum, Aachen, Inv. GK 0403; Enklaar 1993, S. 6, Abb. 4. - Holz, 78 x 106 cm, dat. 1614, Rembrandthuis (Dauerleihgabe aus der Sammlung Cevat, Guernesy), Amsterdam; Enklaar 1993, S. 2, Abb. 1; Im Lichte Rembrandts 1994, S. 233, Nr. 11.
11 Ebd., S. 30

Ausst.: Luther und die Folgen für die Kunst, Hamburger Kunsthalle 1983, S. 80, Abb. 8, S. 362 f., Nr. 232, Abb. 232; Rembrandt, oder nicht?, Hamburger Kunsthalle 2000, S. 68 f., Nr. 14.
Lit.: Cornelius Müller[-Hofstede], Studien zu Lastman und Rembrandt, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 50, 1929, S. 58 f., Anm. 1 (ohne Kenntnis von Inv. 191, aber mit Hinweis auf die 1929 verkaufte Replik); Gustav Pauli, Die Kunsthalle zu Hamburg 1930. Jahresbericht, Hamburg 1931, S. 8 f., 27, Abb.; J. L. A. A. M. van Rijckevorsel, Rembrandt en de traditie (Phil. Diss. Delft), Rotterdam 1932, S. 187, Abb. 236; Richard Hamann, Hagars Abschied bei Rembrandt und im Rembrandt-Kreise, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 8/9, 1936, S. 472 f., Abb. 2; Richard Hamann, Rembrandt, Potsdam 1948, S. 79, Abb. 55; Kurt Bauch, Handzeichnungen Pieter Lastmans, in: Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst 3. F., 3/4, 1952/53, S. 229; ders., Entwurf und Komposition bei Pieter Lastman, in: Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst 3. F., 6, 1955, S. 216 f., Abb. 7; Katalog 1956, S. 92 f.; Katalog 1966, S. 92 f.; Bol 1969, S. 165, 167, Abb. 158; Meisterwerke 1969, Abb. 72; Wolfgang Stechow, Some Observations on Rembrandt and Lastman, in: Oud Holland 84, 1969, S. 152, Anm. 25, S. 157, Abb. 12; Astrid Tümpel, Claesz Cornelisz. Moeyart, in: Oud Holland 88, 1974, S. 43, 45, Abb. 55; Eric Zafran, Jan Victors and the Bible, in: The Israel Museum News 1977, H. 12, S. 97 f., Abb. 12; Luigi Salerno, Pittori di paesaggio del Seicento a Roma, 3 Bde., Rom 1977-1980, Bd. 1, S. 158, 161, Abb. 32.4; Sumowski, Bd. 1, 1983, S. 11, 14, 25, Abb.;
Pieter Lastman. Leermeester van Rembrandt, hrsg. v. Astrid Tümpel, Peter Schatborn, Ausst. Kat. Het Rembrandthuis Amsterdam 1991, S. 23 f., 25, Abb. 10, S. 67 f., 69, Abb. 13; Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde, bearb. v. Christopher Brown u. a., Ausst. Kat. Staatliche Museen zu Berlin Preussischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Berlin u. a. 1991, S. 79, 380, 382, Abb. 81a; Het Oude Testament in de Schilderkunst van de Gouden Eeuw, Ausst. Kat. Joods Historisch Museum, Amsterdam 1991, S. 30, 73, Abb.; J. W. Enklaar, Een nieuw bruikleen in het Rembrandthuis: De verstoting van Hagar en Ismael 1614 door Jan Pynas, in: Kroniek van het Rembrandthuis 1993, H. 2, S. 6-8, Abb. 5; Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst, hrsg. v. Christian Tümpel, Ausst. Kat. Westfälisches Landesmuseum, Münster 1994, S. 30, 74, Abb. 2; Rembrandt / Not Rembrandt, bearb. v. Walter Liedtke u. a., 2 Bde., Ausst. Kat. Metropolitan Museum of Art, New York 1994, Bd. 2, S. 5 f., Abb. 3.

Details zu diesem Werk

Öl auf Eichenholz 48.3cm x 71.4cm (Bild) 68cm x 89.5cm (Rahmen) Hamburger Kunsthalle, erworben 1930 Inv. Nr.: HK-191 Sammlung: Alte Meister © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

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