Dietrich Ernst Andreae

Selbstporträt mit aufgestütztem Arm

Andreae, geboren in Kurland, erhielt seine erste künstlerische Ausbildung von einem durchreisenden holländischen Maler. Nachdem er ungefähr zwei Jahre in Braunschweig gearbeitet hatte, reiste er um 1720 in die Niederlande. Von 1723 – 1726 hielt sich Andreae in London auf, wo er mit James Thornhill zusammenarbeitete. Sein Selbstportrait ist vermutlich aus dieser holländischen Periode, da seine Haltung und die Ikonographie mit einem Portrait von Frans von Mieris in Verbindung gebracht werden könnte, welches zu jener Zeit in Leiden zu sehen war (heute in Polesden, Lacey, England). Indem er sich an Mieris Ikonographie des gelehrten Künstlers orientierte, ist Andreaes Selbstportrait in der Psychologisierung der Pose noch intensiver gehalten als tatsächlich unter den holländischen Künstlern üblich. Allenfalls könnte es sich um eine Adaption des Tizian-Portraits von Rembrandt handeln, das ebenfalls 1639 in einer Amsterdamer Auktion auftauchte.
Gerrit Walczak
Das Halbportrait zeigt den Künstler sitzend nach rechts gekehrt, den rechten Arm auf eine steinerne Brüstung aufgestützt, auf der drei Zeichenblätter liegen, ein Zirkel und ein Buch. Er trägt einen seidenen, weiß, blau und grün gestreiften Hausrock. Die Linke hält Palette und Malstock, das fahl ausgeleuchtete Gesicht ist dem Betrachter leicht zugewandt.
Das Motiv der Selbstinszenierung mit aufgestütztem Arm geht letztlich auf Tizians Portrait eines Mannes zurück, das lange Zeit als Darstellung des Dichters Ariost galt.1 Nachdem Rembrandt 1639/40 das Haltungsmotiv aus Tizians Gemälde in jeweils einem radierten und gemalten Selbstbildnis umsetzte,2 wurde es im 17. Jahrhundert zu einer vielfach aufgegriffenen Bildform vor allem für Selbstportraits niederländischer und französischer Künstler.3
Ungewöhnlich in der nach Rembrandt einsetzenden Rezeptionskette ist das Arrangement auf der Balustrade, das den Künstler attributiv als Pictor doctus ausweist. Das einzige weitere Beispiel der Kombination aus diesen Attributen und der Zurschaustellung von Palette und Pinseln (bei Andreae ist es ein Malstock) ist ein zu Lebzeiten Andreaes nicht durch Nachstiche reproduziertes Selbstbildnis Frans van Mieris’
d. Ä., das sich im Besitz des 1747 gestorbenen Sohnes Willem van Mieris in Leiden befand.4 Es inspirierte auch andere Leidener Künstler zu ähnlichen Selbstportraits, deren letztes um 1720 von Carel de Moor gemalt wurde.5
Für eine Entstehungszeit während Andreaes holländischem Aufenthalt, der bis höchstens 1723 andauerte, spricht neben der wahrscheinlichen Anregung durch das Selbstportrait des Frans van Mieris auch die Aufschrift des untersten, auf der Brüstung liegenden Blattes. Wie bereits der Auktionator Johannes Noodt 1823 feststellte, lassen sich die drei Buchstaben des Wortes, dessen Anfang verdeckt ist, zu [R]OME ergänzen. Andreae war in Braunschweig mit einem herzoglichen Italien-Stipendium ausgestattet worden und hatte zunächst den Umweg über die Niederlande genommen. Vor der eigenmächtigen Weiterreise nach London statt nach Italien wäre Rom noch ein Ziel gewesen, das in dem Selbstbildnis wie ein Künstlerattribut präsentiert wird.
Durch wenige gezielte Änderungen gegenüber dem Selbstbildnis Frans van Mieris’ und allen anderen Ableitungen des tizianesken Haltungsmotivs erreicht Andreae eine zeituntypische Intensität, die dem Gemälde ein fast »vorromantisches Pathos« verleiht.6 Bei ähnlich übersteigernder Lichtführung wie in Inv. 185 wird der Oberkörper angespannt nach vorn verschoben. Der aufliegende Ellenbogen, verstärkt durch das kalte, aus dem bräunlichen Dunkel herausgehobene Schillern des weiß-blauen Seidenstoffs, riegelt den Bildraum ab und verstärkt den Eindruck der Isolation. G. W.

1 Vgl. G. Gerkens in: Meisterwerke 1969, o. S., zu Abb. 123; Tizian, Portrait eines Mannes, um 1512, Lw., 81,2 x 66,3 cm, The National Gallery, London, Inv. NG 1944; Rembrandt by Himself, hrsg. v. C. White, Q. Buvelot, Ausst.-Kat. National Gallery, London, Mauritshuis, Den Haag, London 1999, S. 173, Abb. 53a.
2 Selbstportrait, Radierung, 20,5 x 16,4 cm, dat. 1639; Selbstportrait, Lw., 102 x 80 cm, dat. 1640, The National Gallery, London, Inv. NG 672; zu beiden vgl. Ausst.-Kat. London/Den Haag 1999 (wie Anm. 1), S. 170-175, Nr. 53, 54, Abb. Grundlegend zu dieser Tizian-Anleihe Rembrandts ist E. de Jongh, The Spur of Wit. Rembrandt’s Response to an Italian Challenge, in: Delta 1969, H. 3, S. 54-60.
3 Für eine Auswahl solcher Entlehnungen von Ferdinand Bol bis Hyacinthe Rigaud siehe Walczak 2000, Bd. 1, S. 65 f.
4 Selbstbildnis, Lw., 17,7 x 13,3 cm, dat. 1667, The National Trust, Polesden Lacey; vgl. O. Naumann, Frans van Mieris the Elder, 2 Bde., Groningen 1981, Bd. 1, S. 70 f., Bd. 2, S. 81 f.,
Nr. 66, Taf. 66.
5 Selbstbildnis, Lw., 64 x 53 cm, Stedelijk Museum de Lakenhal, Leiden, Inv. S 4526. Vgl. auch das vor 1688 entstandene Selbstportrait des Jan van Mieris (Maße unbekannt, zuletzt 1988 im Londoner Kunsthandel), das sich ebenfalls im Besitz Willem van Mieris’ befand; siehe De Hollandse fijnschilders, bearb. v.
P. Hecht, Ausst.-Kat. Rijksmuseum, Amsterdam 1989, S. 102, Abb. 18 e.
6 G. Syamken in: Hamburger Kunsthalle, München 31994
(Prestel-Führer), S. 25, Nr. 25.


AUSST.: Einführung 1905, S. 13, Nr. 2; Königsberger Maler im Zeitalter des Simon Dach, bearb. v. Alfred Rohde, Kunstverein Königsberg 1938, S. 16, Nr. 95.
LIT.: Alfred Lichtwark, Kunsthalle zu Hamburg. Zur Wieder-Eröffnung am 23. Dezember 1890, München 1890, S. 36f.; Jahresbericht der Kunsthalle zu Hamburg für 1890, Hamburg 1891, S. 20; Katalog 1918, S. 2f., Taf. 23; Kat. 1921, S. 2f.; Katalog 1930, S. 2f.; Alfred Rohde, Königsberger Maler im Zeitalter des Simon Dach, Königsberg/Berlin 1938, S. 28, Abb.; Katalog 1956, S. 17; Katalog 1966, S. 17; Meisterwerke 1969, o. S., Abb. 123; Selbstbildnisse und Künstlerporträts von Lucas van Leyden bis Anton Raphael Mengs, Red. Rüdiger Klessmann, Ausst. Kat. Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig 1980, S. 68; Katalog Braunschweig 1989, S. 23; Meisterwerke 1994, Abb. S. 62; Gerrit Walczak, Dietrich Ernst Andreae (um 1695-1734). Monographie und Werkverzeichnis, 2 Bde., Phil. Diss. Hamburg 2000 (unveröffentl.), Bd. 1, S. 53-61, Bd. 2, S. 28f., Nr. 19, Abb.; ders., Dietrich Ernst Andreae (um 1695-1734): Teil 1, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 39, 2000, S. 135-138, Abb. 1; Christina Haak, Das barocke Bildnis in Norddeutschland. Erscheinungsform und Typologie im Spannungsfeld internationaler Strömungen (Phil. Diss. Münster 1999), Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 281, unter Nr. SB 9; Gerrit Walczak, 'The man that workt for Sr. James Thornhill': Dietrich Ernst Andreae (c. 1695-1734) in England, in: The British Art Journal 3, 2002, H. 2, S. 8f, Farbabb. 1.

Details zu diesem Werk

Leinwand 82.5cm x 67cm (Bild) Geschenk des Kunstvereins in Hamburg, 1890 Inv. Nr.: HK-186 Sammlung: Alte Meister © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

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