Jan Havicksz. Steen
Vaterfreuden, 1668
Steen gehört zu den bedeutendsten Vertretern der niederländischen Genremalerei. Zumeist mit Humor schilderte er Szenen aus dem Alltag der Bauern und Bürger und gab ihre Sitten, Bräuche und moralischen Verfehlungen anekdotenreich wieder. In einer bürgerlichen Wohnstube versammeln sich zahlreiche Frauen eifrig parlierend und begutachten zwei neugeborene, in rote Tücher gewickelte Kinder. Rechts in einer Bettnische kauert sichtlich erschöpft die Mutter im Wochenbett. Darüber hängen an der Wand die Darstellung der Gottesmutter Maria mit dem Kind sowie eine Liebesszene, die wohl die Geschichte von Lot und seinen Töchtern zeigt. Eine alte Frau weist mit der Hand auf einen Mann, vermutlich den Vater der Kinder, während gleichzeitig die im Korb sitzende Amme mit dem Neugeborenen im Arm lachend an seinem Gewand zerrt. In gespielter Verzweiflung rauft der Vater sich ob des Kindersegens und Durcheinanders in der Wochenstube die Haare. Steen lässt mit dem ironisch zu verstehenden Bildtitel weiteren Anspielungen auf Treue und Untreue freien Raum.
Sandra Pisot
In einem bürgerlichen Wohnzimmer, einer sogenannten Burger Kraamkamer, hat sich eine Gruppe von Frauen vor dem Wochenbett im Alkoven zusammengefunden. Eine Frau zeigt auf den vermeintlichen Vater, der sich angesichts seiner prekären Lage die Haare rauft. Eine im Wickelkorb sitzende Amme mit einem Neugeborenen im Arm zerrt lachend an seiner Schürze, während ihm auf der anderen Seite eine junge Frau das zweite Kind zeigt. Für dieses wird gerade ein weiterer Korb vom Boden gebracht. Ein schwarz gekleidetes Paar betritt das Zimmer durch eine Tür im Hintergrund.3 Über dem Wochenbett links hängt ein Gemälde mit der Muttergottes und dem Kind. In der Emblemliteratur wurde die Mutterschaft in der Ehe als zweite Jungfräulichkeit beschrieben.4 Das Gemälde über dem Bord deutet eine Liebesszene an, vielleicht die Geschichte von Lot und seinen beiden Töchtern.5
Das Thema der Wochenstube hat Steen wiederholt behandelt, so in dem vier Jahre zuvor entstandenen Gemälde in London6 und in einem nicht datierten, kleineren Gemälde in Helsinki mit nahezu denselben Frauentypen, die dort um einen runden Tisch sitzen.7 In London ist der Ehemann durch ein Kuckuckszeichen, das hinter seinem Kopf hochgehalten wird, eindeutig als betrogener Ehemann gekennzeichnet. Durantini schließt diese Deutung auch für Inv. 169 nicht aus, da das hohe Alter des Mannes gegen dessen Vaterschaft spräche.8 Braun vermutet, das Gerede der Frauen über die Vaterschaft habe ihn in Verzweiflung versetzt.9 Bislang wurde angenommen, es handle sich um die Darstellung von Zwillingen. Die beiden Bilder im Bild und die Reaktion des Mannes lassen jedoch auch den Schluß zu, beide Kinder hätten verschiedene Mütter; gezeigt wäre dann der Augenblick der Überführung. Das Thema des untreuen Ehemannes fand jedenfalls auch auf der Bühne Beachtung.10
Auffallend viele Gemälde Steens aus den sechziger Jahren sind datiert.11 Er brilliert in ihnen zumeist mit einer Palette von gebrochenen Rot-, Braun-, Grau- und Blautönen. Mit großer Sorgfalt setzte er auf Inv. 169 die Lichtreflexe: an die Ränder der Eierschalen, auf die Stuhlbeschläge, die Bettpfanne oder die Gefäße auf dem Bord über dem Wochenbett. Die mit dem Rücken zum Betrachter sitzende Frau (die zweite Mutter?), deren Haltung und kraftlos herabhängender Arm mit einem Krug in der Hand einen leicht trunkenen Zustand andeuten, gehört zu Steens festem Repertoire.12 Der kleine Junge mit Hut und Brettchen in den Händen kommt auch auf zwei weiteren Gemälden vor.13
Thomas Ketelsen 2001
1 M. J. Bok, Het Leven van Jan Steen, in: Jan Steen. Schilder en Verteller, bearb. v. H. P. Chapman u. a., Ausst. Kat. Rijksmuseum, Amsterdam, National Gallery of Art, Washington 1996,
S. 25-37.
2 Vgl. auch Hoet 1752/1770, Bd. 2, S. 110. Der Hinweis auf die Slg. Seger Tierens bei Westrheene 1856, S. 167 f.
3 Ein ähnlich gekleideter Mann ist auf dem Bohnenfest in Kassel ein Pastor, Lw., 82 x 107,5 cm, bez. JSteen. 1668, Staatliche Museen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, Inv. GK 296; Katalog Kassel 1996, Bd. 1, S. 286, Bd. 2, Taf. 142.
4 Zum Thema der zweiten Jungfräulichkeit vgl. E. de Jongh, Grape Symbolism in Paintings of the 16th and 17th Centuries, in: Oud Holland 7, 1974, S. 166-191.
5 Zum Bild im Bild bei Jan Steen vgl. G. J. M. Weber, »Om te bevestige[n], aen-te-raden, verbreeden ende vercieren«. Rhetorische Exempellehre und die Struktur des »Bildes im Bild«, in:
Wallraf-Richartz-Jahrbuch 55, 1994, S. 303-307.
6 Lw., 87,7 x 107 cm, bez. JSteen. 1664; Wallace Collection, London, Inv. P 111; Katalog London 1992, S. 350-353.
7 Lw., 59 x 73 cm, Sinebrychoff Art Museum, Helsinki,
Inv. S 112; Foreign Schools. Summary Catalogue I. Paintings, bearb. v. M. Supinen, Helsinki 1988, S. 112.
8 Durantini 1983, S. 229-304. Die zerbrochenen Eierschalen werden als Zeichen männlicher Impotenz gedeutet; die Bettpfanne (niederl. bedwarmer) als Anspielung auf die Untreue der Frau. Eine literarische Quelle für das Thema des betrogenen Ehemannes im Zusammenhang mit der unerwarteten Geburt von Zwillingen ist nicht bekannt.
9 Durantini weist darauf hin, daß die Geburt von Zwillingen auch als Hinweis auf verschiedene Väter angesehen werden konnte; ebd., S. 306, Anm. 38.
10 Vgl. das Lustspiel Kraam-bedt, oft kandeel-maal van
Zaatje Jans, vrouw van Jan Klaazen von Thomas Asselijn, das jedoch erst 1684 erschien, s. Durantini 1983; Westermann 1997, S. 170.
11 Auffallend viele der datierten Gemälde stammen - wie Inv. 169 - aus den Jahren 1667/68, was Lyckle de Vries als Zeichen eines Wandels in der Kompositionweise und Farbpalette deutet, s. Jan Steen 1996 (wie Anm. 1), S. 78. Inv. 169 wird dort, S. 199, Anm. 6, mit einem undatierten Gemälde Das Sankt Nikolaus-Fest (Privatbesitz) verglichen.
12 Vgl. etwa das Geburtsfest in Helsinki (wie Anm. 7).
13 Der Leidener Bäcker Arend Oostwaert und seine Frau Catharina Keyzerswaert, Holz, 38 x 32 cm, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. A 390; Das Sankt Nikolaus-Fest, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam; vgl. Jan Steen 1996 (wie Anm. 1), S. 122-125, Nr. 8, Anm. 13, mit Hinweis auf Inv. 169, ferner S. 197, Abb. 1.
Lit.: T. van Westrheene, Wz., Jan Steen. Étude sur l'art en Hollande, Den Haag 1856, S. 167 f., Nr. 461; Gustav Parthey, Deutscher Bildersaal, 2 Bde., Berlin 1863/64, Bd. 2, S. 578, Nr. 18; Woermann 1892, S. 194, Nr. 244; Julius von Pflugk-Harttung, Die Webersche Gemäldesammlung, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 8, 1885, S. 87; Friedrich Schlie, Kunstgeschichtliche Erörterungen, in: Hervorragende Gemälde niederländischer Meister der Galerie Weber, Hamburg/Wien 1891, S. 12; Hofstede de Groot, Bd. 1, 1907, S. 105 f., Nr. 447 (siehe auch Nr. 448b); Woermann 1907, S. 234 f., Nr. 291; Lichtwark 1912, S. 21, Nr. 32; Katalog 1918, S. 155; Katalog 1921, S. 160; Katalog 1930, S. 152; C. W. de Groot S. J., J. Steen, Beeld en Woord,
Utrecht/Nijmegen 1952, S. 206 ff.; Wilhelm Martin, Jan Steen, Amsterdam 1954, S. 53; Katalog 1956, S. 144; Meisterwerke 1958, S. 33, Nr. 30, Taf. 27; Katalog 1966, S. 150; Meisterwerke 1969, Abb. 93, S. 453; Lyckle de Vries, Jan Steen »de Kluchtschilder«, Phil. Diss. Groningen 1977, S. 63, 66, 166, Nr. 142; Karel Braun, Alle tot nu toe bekende schilderijen van Jan Steen, Rotterdam 1980, S. 128 f., Nr. 294, Abb. 294 (mit falscher Standortangabe), S. 61, Abb.; Mary Frances Durantini, The Child in Seventeenth-Century Dutch Painting (Phil. Diss. University of California 1979), Ann Arbor 1983, S. 304-307, Abb. 166; Mariët Westermann, The Amusements of Jan Steen: Comic Painting in the Seventeenth Century, Zwolle 1997, S. 166-176, Abb. 87; Wouter Th. Kloek, Een huishouden van Jan Steen, Hilversum 1998, S. 28, Abb. 15, S. 40-43.