Adriaen Isenbrant, zugeschrieben

Die Flucht nach Ägypten

Joseph, den Wanderstab mit Reisebündel über der Schulter, führt an einem Band den Esel mit Maria und dem Kind. Das Flattern seines Umhangs steht in auffälligem Gegensatz zu dem ruhig fallenden Gewand Mariens, die wie thronend auf dem Rücken des Esels sitzt. Im Traum war Joseph ein Engel erschienen, der ihn aufforderte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter, flieh nach Ägypten (Matth. 2,13-18). Ausführlich wird die Flucht vor den Truppen des Herodes im sogenannten Pseudo-Matthäus-Evangelium und in der Legenda Aurea beschrieben.3
Die Komposition geht auf Dürers Holzschnitt Die Flucht nach Ägypten von 1503-1505 zurück; übernommen wurde die ausschreitende Figur Josephs, der gemauerte Brückenbogen unten rechts und die zu einer Umgrenzung zusammengefügten Pflöcke links.4 Anstelle der Palmenlandschaft bei Dürer erstreckt sich hier eine weite Flußlandschaft mit zerklüfteten Felsen und Bauernhäusern. Das Felsmassiv mit der Burg hinter Joseph ist vermutlich eine Anspielung auf den Vers »Der Herr ist mein Fels und meine Burg und meine Errettung« (2. Samuel 22,2).5
Die Figurengruppe kommt auf weiteren Isenbrant zugeschriebenen Darstellungen der Flucht nach Ägypten vor. Auf dem Gemälde in Zürich wurde einzig die Haltung des Kindes, dem Maria die Brust reicht, verändert.6 Auf dem rechten Flügel des Diptychons mit den Sieben Schmerzen Mariae in Brügge wurde ebenfalls auf die Komposition zurückgegriffen.6 Um 180 Grad gewendet findet sie sich auf dem rechten Seitenflügel eines Triptychons in New York, die Figuren sind dort näher aneinandergerückt.8 Anders als die Figuren wurde die Landschaft jeweils neu gestaltet, auf dem Gemälde in Zürich ist im Mittelgrund der Bethlehemitische Kindermord dargestellt.
Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des Werkes Isenbrants war für Hulin de Loo und Friedländer das genannte Diptychon Die Sieben Schmerzen Mariae. Inv. 128 galt im 19. Jahrhundert als Werk von Joachim Patinir und wurde erstmals 1905 von Bodenhausen Isenbrant zugeschrieben. Die Figur der Maria mit dem anmutig geneigten Kopf und dem durchscheinenden Kopftuch findet sich auf einer in mehreren Fassungen bekannten Anbetung Isenbrants wieder.9 Die Haltung des Kindes kommt auch auf zwei Gemälden der Thronenden Jungfrau in Madrid und New Orleans vor, die Haltung des linken Armes ist dort jeweils leicht verändert;10 sie geht vermutlich zurück auf eine ebenfalls in verschiedenen Fassungen bekannte Ruhe auf der Flucht von Gerard David.11 Wilson vermutet, dessen Kompositionen seien durch Nachzeichnungen oder Pausen verbreitet gewesen.12
Die hohe, jedoch durch den schlechten Erhaltungszustand beeinträchtigte malerische Qualität der Tafel läßt auf eine Entstehung in der Werkstatt Isenbrants schließen.

Thomas Ketelsen 2001

1 J. C. Wilson, Painting in Bruges at the Close of the Middle Ages, Pennsylvania 1998, S. 90-93; Memling und seine Zeit, hrsg. v. M. P. J. Martens, Ausst. Kat. Memlingmuseum, Oud-Sint-Janshospitaal Brügge 1998, S. 120-122.
2 Vgl. V. Bauer, Restaurierungsprotokoll vom 30. 11. 1934 (Gemäldeakte).
3 M.-L. Dufey-Haeck, Le thème du repos pendant la fuite en Égypte dans la peinture flamande de la seconde moitié du
XVe au milieu du XVIe siècle, in: Revue Belge d'Archéologie et
d'Histore d'Art 48, 1979, S. 45-75.
4 Holzschnitt, 298 x 209 mm (Bartsch 89); vgl. Wilson 1998
(s. Anm. 1), S. 126 f., Abb. 59.
5 Vgl. A. P. de Mirimonde, Le symbolisme du rocher et de la source chez Joos van Clève, Dirck Bouts, Memling, Patenier,
C. van den Broeck (?), Sustris et Paul Bril, in: Jaarboek
Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen 1974,
S. 73-100.
6 Eichenholz, 128 x 100 cm, Kunsthaus, Zürich; Chr. Klemm, Die Gemälde der Stiftung Betty und David M. Koetser, Ausst. Kat. Kunsthaus Zürich 1988, S. 22 f., Nr. 3.
7 Eichenholz, 138 x 138 cm, dat. 1521, Onze-Lieve-Vrouwekerk, Brügge; Memling und seine Zeit 1998 (s. Anm. 1), S. 129, Kat. 40B; Wilson 1998 (wie Anm. 1), S. 126 f., Abb. 58.
8 Holz, 27,3 x 8,9 cm, Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 13.32a-c; From Van Eyck to Bruegel, hrsg. v. M. W. Ainsworth, K. Christiansen, Ausst. Kat. Metropolitan Museum of Art, New York 1998, S. 370-373, Kat. 100.
9 Friedländer, Bd. 11, 1974, S. 83 f., Nr. 147, 148, Taf. 123; vgl. auch die Anbetung der Hirten in Washington, National Gallery of Art, Inv. 1978, 46.1.
10 Friedländer, Bd. 11, 1974, S. 87, Nr. 174, 174a, Taf. 132; Wilson 1998 (wie Anm. 1), S. 91-93, Abb. 32, 33.
11 Ebd., S. 96 f., Abb. 37, 38.
12 Ebd., S. 90-103.

Lit.: Verzeichnis 1869, S. 49, Nr. 260 (als Patinir); Eberhard Freiherr von Bodenhausen, Gerard David und seine Schule, München 1905, S. 221, Nr. 104 (als Werkstatt Isenbrants); Katalog 1918, S. 80 f.; Gustav Pauli, Die Sammlung Alter Meister in der Hamburger Kunsthalle, in: Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. 31, 1920, S. 185; Katalog 1921, S. 84; Katalog 1930, S. 80; Friedländer, Bd. 11, 1933, S. 132, Nr. 151; Katalog 1956, S. 84; Katalog 1966, S. 88; Friedländer, Bd. 11, 1974, S. 84, Nr. 151. Taf. 125; Helmut Bertram, Landschaftsbilder der Kunsthalle, Hamburg 1978, S. 17-22.

Details zu diesem Werk

Tempera Eichenholz 101cm x 83.5cm (Bild) 124.5cm x 108.5cm (Rahmen) Inv. Nr.: HK-128 Sammlung: Alte Meister © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford

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