Cordula Ditz

Wer lügt, 2020

aus der Installation: You may not know him but, 2020

Cordula Ditz entwickelte die Installation »You may not know him but« anlässlich einer Ausstellung im Bieberhaus am Hauptbahnhof im Rahmen von MIND the GAP, kuratiert von Sven Christian Schuch.

Ausgehend von Recherchen zur Geschichte des Bieberhauses ist eine umfangreiche Installation entstanden, die sich aus Malereien, Lichtarbeiten, Palmen, alten Radios, einem Teppich und einer Videoarbeit zusammensetzt. Die Arbeiten collagieren die Geister unterschiedlicher geschichtlicher Epochen, Persönlichkeiten und Ereignisse mit der Gegenwart und schaffen so einen begehbaren Denkraum.

Bei ihren Recherchen stieß Cordula Ditz auf die Geschichte von Helmuth Hübener, dessen Schicksal im Mittelpunkt der Arbeit steht. 1942 wurde der Jugendliche während seiner Ausbildung in der Sozialverwaltung im Bieberhaus verhaftet und später mit nur 17 Jahren als jüngster Widerstandskämpfer durch das Naziregime hingerichtet. Helmuth Hübener war Arbeiterkind und Teil der mormonischen Gemeinde Hamburgs. Ab 1941 hörte der damals 16-jährige Verwaltungsschüler heimlich den Feindfunk - BBC ab und entwickelte daraus an die 60 Flugblätter, die er mit seinen beiden Freunden Rudolf Wobbe und Karl-Heinz Schnibbe verteilte.
In Deutschland und in seiner Heimatstadt Hamburg ist er bis heute weitestgehend unbekannt geblieben, im Gegensatz zu anderen Widerstandskämpfern wie der Weißen Rose. Lediglich ein deutschsprachiges Buch von Ulrich Sander ist 2002 beim VVN-BdA erschienen. Erstaunlicherweise finden sich aber im Internet zahlreiche in den USA erschienene englischsprachige Videos über ihn. Das Video in der Installation ist aus diesen gefundenen Ausschnitten collagiert. Das Material setzt sich aus unterschiedlichsten Quellen zusammen: Videos jugendlicher YouTuber, die Hübener als Helden verehren, Erinnerungen seines Mitstreiters Karl-Heinz Schnibbe, von Teenagern produzierte animierten 3-D Visualisierungen der Geschichte Hübeners und Filme von Historikern aus der mormonischen Gemeinde im amerikanischen Bundesstaat Utah. Dem gegenübergestellt sind Szenen verschiedener Filmproduktionen der nationalsozialistischen
Propaganda.

Diese beiden Erzählstränge setzen sich in der Gesamtinstallation fort. Die alten Radiogeräte verweisen einerseits auf ihre potenzielle Funktion als Informationsquelle zum Abhören des Feindfunks – so wie Hübener sie benutzte – dem Nazi Regime dienten sie unter Einbindung der Unterhaltungsindustrie als ein wichtiges Propagandainstrument. Wie die Palmen spielen sie aber auch auf die früher in den unteren Stockwerken des Bieberhauses ansässigen Kaffees, Bars und Varietés an, die anderen Teenagern zur Zerstreuung dienten, während Helmuth Hübener nur wenige Stockwerke darüber an seinen Flugblättern arbeitete.

Hier schließt sich indirekt ein weiteres Motiv an: der Kunstsalon Maria Kunde, der von 1911 bis nach dem Zweiten Weltkrieg vor Ort war und in einer der Ausstellungen die »Friedrichsberger Köpfe« von Elfriede Lohse-Wächtler zeigte, die später in Dresden in der nationalsozialistischen Euthanasie-Aktion ermordet wurde. In Hamburg wurden die Einweisungen in Anstalten, aus denen dann die Abtransporte in die »Euthanasie« erfolgten, in der Sozialverwaltung, dem Arbeitsort Hübeners veranlasst. Das Neon »Wer lügt« ist ein Zitat aus einem seiner Flugblätter, mit denen er die Öffentlichkeit über die Wahrheit aufklären wollte, verweist aber auch darüber hinaus auf unseren Umgang mit Medien heute. Die Arbeit stellt Fragen zu Erinnerungskultur im Allgemeinen und zu Konstruktion und Rekonstruktion von Geschichte und unserer Wahrnehmung von Widerstand.

Esmeralda Rosenberg, die Wahrsagerin vom Dom, wurde von der Künstlerin eingeladen, sich für die Zeit der Ausstellung auf dem Hachmannplatz vor dem Bieberhaus mit ihrem Wagen nieder zu lassen und in einem zeremoniellen Akt im Austausch mit der Künstlerin dem Bieberhaus die Zukunft vorherzusagen.

Details zu diesem Werk

Neonsystem, Acrylglas, Transformator Hamburger Kunsthalle. Dauerleihgabe des Fonds für Junge Kunst der Stiftung Hamburger Kunstsammlungen Inv. Nr.: G-2020-40 Sammlung: Galerie der Gegenwart © 2020, Cordula Ditz Courtesy of the artist and MIND the GAP, Fotos: Volker Renner

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