Marcantonio Raimondi, (?), Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Zeichner, Erfinder

Der Traum der Hl. Helena, nach 1513

Nach dem Tod Christi hatte sich jegliche Spur des Kreuzes, an dem er verstorben war, verloren. Erst Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, ergriff der Legende nach entschieden die Initiative zur seiner Wiederauffindung. Um das Jahr 325 brach sie als etwa achtzigjährige Frau nach Palästina auf, wo sie die für das Christentum unschätzbar kostbare Reliquie auf wundersame Weise wiederfand. Diese übt – im Laufe der Jahrhunderte in zahlreiche Partikel zerteilt – bis heute große Faszination auf die Menschen aus. Wie der Kirchenvater Ambrosius überliefert, hatte Gottvater der Kaisermutter die Aufgabe zur Wiederauffindung in einem Traum übertragen. Diese Begebenheit ist das Thema eines faszinierenden Kupferstichs, der nach 1513 im Umkreis Raffaels entstanden ist. (Anm. 1) Die Komposition zeigt eine an einem offenen Fenster sitzende junge Frau, die ihren Kopf auf ihren rechten Arm stützt. Sie hat ihre Augen geschlossen, so dass der Eindruck des Schlafens entsteht. Die Frau trägt ein langes Kleid, ihre Haare sind unter einem Kopftuch verborgen. Ihr rechtes Bein ist elegant auf einem Sims abgelegt. Zu ihren Füßen hat sich ein Hund zusammengerollt. Im Hintergrund erkennt man eine Siedlung mit einer Befestigungsmauer. Diese Darstellung könnte man fast als intime Alltagsszene deuten, wenn nicht in der Fensteröffnung ein fliegender Engel, ein Kreuz über der Schulter tragend, zu sehen wäre. Er ist der Schlüssel zur Deutung der Szene, wonach es sich bei der schlafenden Frau um Helena handeln muss, die gerade von dem göttlichen Auftrag zur Kreuzauffindung träumt. (Anm. 2) Selten ist das Träumen von Menschen so einfühlsam verbildlicht worden. Die vertikalen und horizontalen Linien von Fensterrahmen und Bank geben der Darstellung ein Gerüst, in das der fliegende Engel und die in sich versunkene Helena spannungsvoll eingebunden sind. Die Zusammengehörigkeit aller Teile wird durch die auffallende vertikale Linienführung verstärkt. Anstelle von Konturlinien werden zumeist Punkte gesetzt. Die Gesamtwirkung ist weich und ähnelt eher einer Radierung als einem Kupferstich. Auch wenn der Traum der Hl. Helena keinerlei Inschrift aufweist, ist die Komposition eindeutig Raffael zuzuschreiben. Auf einer ebenso eleganten wie virtuosen Zeichnung in den Uffizien findet sich eine in der Haltung sehr ähnliche Frauenfigur, allerdings seitenverkehrt zum Stich. (Anm. 3) Im oberen Bereich des um 1514 datierten Blattes schweben Engel, die an denjenigen auf der Druckgraphik erinnern. Wahrscheinlich stellt das Florentiner Blatt eine Sammlung früher Ideen für eine von Raffael geplante Traumdarstellung dar. Ob diese schon als Vorlage für den Stich diente, wie wiederholt in der Literatur angenommen, ist denkbar, aber nicht zwingend. (Anm. 4) Wahrscheinlicher ist es, dass eine weiter ausgeführte Entwurfszeichnung existiert haben muss, die sich nicht erhalten hat. Denn es ist eher anzuzweifeln, dass Raffael einen derart großen Freiraum für die künstlerische Ausformulierung seiner frühen Ideen zugelassen hätte. Unstrittig ist, dass Raffaels Entwurf in seinem direkten Umfeld als Kupferstich umgesetzt wurde. Hierfür kommt nach Ansicht der Mehrzahl der Forscher nur die Werkstatt Marcantonio Raimondis in Frage. Doch trotz der charakteristischen Strichführung ließ sich das Blatt bislang keinem bekannten Stecher eindeutig zuordnen. Raimondi selbst wurde wegen der markanten Weichheit der Wiedergabe und das Fehlen jeglicher Kreuzschraffen zumeist als Urheber ausgeschlossen. Doch es gibt in seinem Œuvre durchaus Tendenzen zu stilistischen Variationen, die seine Autorschaft an dem Werk denkbar erscheinen lassen. (Anm. 5) Die einprägsame Traumdarstellung fand in der Renaissance großes Interesse, worauf mehrere Kopien mit und ohne Engel hindeuten. (Anm. 6) Für größere Bekanntheit sorgte ein um 1560/65 entstandenes Gemälde Paolo Veroneses, auf dem das Hauptmotiv der Helena sehr genau übernommen wurde. (Anm. 7)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 342, Nr. 460; Gramaccini/Meier 2009, S.
159 (Beitrag Hans Jakob Meier); Bloemacher 2016, S. 343

1 Der Kupferstich kann nicht früher entstanden sein, da seine Abhängigkeit von der um 1514 datierbaren Vorstudie Raffaels eindeutig ist (s. u.). Bloemacher geht von einer früheren Entstehung des Stichs aus, da sie die Datierung der Zeichnung mit 1511 ansetzt; vgl. Bloemacher 2016, S. 343, Anm. 150. Diese Datierung ist allerdings mit Sicherheit zu früh; vgl. Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 483, S. 603, Nr. 483; Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 172–173. 2 Meier schlägt wenig überzeugend eine Deutung mit einer sinnenden Frau, der ein Martyriumsengel erscheint, vor. Gramaccini/Meier 2009, S. 159. 3 Feder in Braun, braun laviert, Spuren von Graphit; Florenz, Gallerie degli Uffizi, Gabinetto dei Disegni e delle Stampe, Inv.-Nr. 1973 F r.; vgl. Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 172–173, Kat.-Nr. IV.4; Abb. S. 157. Raffael ließ sich von einem römischen Sarkophagrelief mit dem Motiv der Nova nupta (150–170 n. Chr.) zum Motiv der sitzenden Frau anregen. 4 Vgl. z. B. Gramaccini/Meier 2009, S. 159. 5 Hans Jakob Meier sieht keinen Grund, das Werk nicht Marcanton zuzuschreiben; vgl. Gramaccini/Meier 2009, S. 159. 6 Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 854a. Die seitenverkehrte Kopie ist wesentlich härter gestochen, weshalb die Details, beispielsweise der kauernde Hund, konturierter hervortreten. Auch die Geschlossenheit des Auges ist auf der Kopie besser zu erkennen; vgl. auch Bernini Pezzini/Massari/ Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 217, Nr. IV.2; zur Variante ohne Engel vgl. Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 217, Nr. IV.1. Vivant Denon publiziert 1829 eine romantisch aufgeladene Version des Traums der Hl. Helena, auf der ein Engel Blüten streut und rechts der Mond scheint; vgl. Höper 2001, S. 180, Nr. A 33.1. 7 Öl auf Leinwand, London, National Gallery, Inv.-Nr. NG 1040

Details zu diesem Werk

Kupferstich 157mm x 93mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 854 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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