Girolamo Carattoni, Radierer
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder
Enslinsche Buchhandlung (Ferdinand Müller), Verleger

Kopf eines Kindes aus der "Schule von Athen" / "Testa di un fanciullo [...]", 1840

In: "SAMMLUNG DER VORZÜGLICHSTEN DENKMÄLER [...]", Berlin 1840, Tafel 193

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde Raffael zunehmend auch zum Thema der Kunstgeschichte. Diese noch relativ junge Disziplin entwickelte damals in rasantem Tempo ihre Methoden und publizierte eine immense Fülle an Fakten und Analysen. Eine der Kernaufgaben des Faches bestand darin, die Geschichte der künstlerischen Entwicklungen zu rekonstruieren und durch Abbildungen zu veranschaulichen. Aufgrund Raffaels großer Bedeutung und eminenter Wertschätzung war es selbstverständlich, dass er in Überblickswerken zur Kunst prominent vertreten sein musste. Ein prägnantes Beispiel für dieses Phänomen bildet die bedeutende Histoire de l’art par les monumens, depuis sa décadence au IVe siècle jusqu’à son renouvellement au XVIe. (Geschichte der Kunst durch ihre Denkmäler von ihrem Niedergang im IV. bis zu ihrer Erneuerung im XVI. Jahrhundert). (Anm 1) Ihr Autor, der wohlsituierte Franzose Jean Baptiste Louis Georges Séroux d’Agincourt, hatte zunächst zahlreiche Reisen durch Nordeuropa und Italien unternommen und dann bis etwa 1790 seine Untersuchungen in einem umfangreichen Manuskript zusammengefasst. Aufgrund der französischen Revolution und der unruhigen Zeitläufte zog sich die Publikation von 1810 bis 1823 hin. Zunächst erschienen 24 Lieferungen, wobei die letzten erst nach dem Tod des Autors erfolgten.
Dies gilt auch für die erste Gesamtausgabe von 1823. Das Werk umfasste drei Text- und drei Tafelbände mit 325 Überblickstafeln. Zahlreiche Abbildungen waren als Umrissradierungen ausgeführt, was eine schnelle und kostengünstige Produktion sicherstellte. Zudem waren die Darstellungen in ihrer Reduktion auf Umrisse auch für Laien gut verständlich.
D’Agincourt hatte einen hohen Anspruch, wollte er doch die Grundlagen von Giorgio Vasari und Johann Joachim Winckelmann zu einer kompletten Kunstgeschichte von der Antike bis zur Neuzeit verbinden. (Anm. 2) Raffael kommt in dieser Erzählung für d’Agincourt eine wichtige Rolle zu, da er durch sein Gespür für das Gute und Schöne sowie durch seine Begabung den Wiederaufstieg der Kunst maßgeblich gefördert habe. (Anm. 3) Dementsprechend wurde Raffael denn auch mit insgesamt siebzehn Tafeln gewürdigt – dies war die weitaus höchste Anzahl für einen in der Histoire de l’art […] behandelten Künstler. (Anm. 4) Leonardo da Vinci erhielt dagegen lediglich drei Tafeln zugewiesen. Die besondere Wertschätzung Raffaels zeigt sich auch daran, dass er mit einem Selbstbildnis vorgestellt wird. (Anm. 5) Bemerkenswert sind zudem ein Tableau mit Reproduktionen mehrerer Zeichnungen sowie eine Zusammenstellung von nicht weniger als neunzehn seiner Hauptwerke auf einem Blatt. Darunter befinden sich die Galatea, einige der Teppiche sowie Motive aus den Loggien und den Stanzen. (Anm. 6) Deutlich hervorgehoben wurde die Schule von Athen, von der zehn großformatige Reproduktionen ausdrucksstarker Köpfe gezeigt wurden. Zu sehen sind beispielsweise Sokrates sowie ein am linken Bildrand auf den Betrachter blickender Knabe, der in seinem lieblichen Ausdruck als ein Prototyp zahlreicher Kinderdarstellungen Raffaels gelten kann.
Sämtliche Blätter zur Schule von Athen stammen von Girolamo Carattoni, einem bislang kaum greifbaren italienischen Graphiker. Seine Linienführung ist sicher, aber nicht sonderlich ausdrucksstark, was den Blättern eine gewisse dokumentarische Gleichförmigkeit verleiht.
Die vorliegende Graphik entstammt der 1840 in Berlin erschienenen deutschen Ausgabe von d’Agincourts Werk. Aufgrund der langen Publikationszeit wurde die Originalausgabe von Ferdinand von Quast überarbeitet und ergänzt und enthielt nun unter dem Titel Denkmaeler der Architectur, Sculptur und Malerei vom IV. bis zum XVI. Jahrhundert 3335 Abbildungen auf 328 Tafeln. Auch in dieser Ausgabe wurde Raffael vor allen anderen Künstlern durch die Anzahl der Darstellungen herausgestellt.
David Klemm

LIT (Auswahl): Höper 2001, S. 380, Nr. F 2.28; zur Edition allgemein siehe
Brandt/Hefele/Lehner/Pfisterer 2021, S. 247–250 (Beitrag Amanda Bischoff)

1 Zur Edition vgl. Krause/Niehr/Hanebutt-Benz 2005, S. 87–91, Nr. 4 (Beitrag Klaus Niehr);
Eberlein/Naredi-Rainer/Pochat 2010, S. 413–416 (Beitrag Michael und Thomas
Rainer); Brandt/Hefele/Lehner/Pfisterer 2021, S. 247–250.
2 Brandt/Hefele/Lehner/Pfisterer 2021, S. 248.
3 Ebd.
4 Vgl. die Auflistung bei Höper 2001, S. 559.
5 Es handelt sich um das Selbstbildnis aus der Schule von Athen, das ihn mit großer
Wahrscheinlichkeit mit Perugino zeigt.
6 Der Untertitel der Tafel CLXXXVI lautet: „Riunione delle principali composizioni
storiche e poetiche di Raffaello. XVI. sec.“

Details zu diesem Werk

Radierung 331mm x 216mm (Bild) 378mm x 262mm (Platte) 450mm x 296mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Bibliothek Inv. Nr.: 73831 Sammlung: KK Druckgraphik, Deutschland, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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