Heinrich (auch: Kaspar Heinrich) Merz, Kupferstecher
nach Bonaventura Genelli, Zeichner, Erfinder
F. A. Brockhaus (Leipzig), Drucker
Alphons Dürr, Verleger

"VOR DER SIXTINA.", 1868

Aus: "Aus dem Leben eines Künstlers [...]", Leipzig 1868, Tafel III (Blatt 4)

Kaspar Heinrich Merz übertrug hier eine elegante, von Bonaventura Genelli gezeichnete Interieurszene in den Kupferstich, in der vier Frauen und ein am Boden liegendes Kind auf verschiedenste Weise Raffaels malerisches Hauptwerk der Sixtinischen Madonna, die 1754 nach Dresden gelangt war (siehe Ausstellungskatalog „Raffael. Wirkung eines Genies“ 2021 Kat. 97–102), eingehend betrachten. Bei dem hier im Verhältnis zu den Figuren recht klein wiedergegebenen Bild der Sixtinischen Madonna, das auf einer niedrigen Staffelei ganz rechts in der Komposition steht, handelt es sich nicht um das Original Raffaels in der Dresdner Gemäldegalerie, sondern um die von Friedrich Bury ab 1802 angefertigte Kopie für Königin Luise von Preußen, die diese ihrem Mann König Friedrich Wilhelm III. von Preußen schenkte. (Anm. 1)
Friedrich Bury ist die neben dem Bild stehende männliche, bescheiden zurücktretende Figur, die den kunstsinnigen Betrachterinnen – Zeichenschülerinnen von Bonaventuras Vater, dem Landschaftsmaler Janus Genelli (Anm. 2) – die fertige Kopie in seinem Haus präsentiert. Links vor dem Bild befinden sich zwei Stühle, auf dem hinteren sitzt eine Frau, eine andere stützt sich von hinten auf die Lehne des zweiten, näher am Bild postierten Stuhls. Jeweils neben diesen beiden Frauen stehen zwei weitere verschiedenen Alters, beide wie die ersteren in tiefe Verehrung des Raffaelmotivs versunken. Drei der Frauen stimmen ein Lied an, wie die geöffneten Münder zeigen und die Beschreibung Max Jordans erläutert, die vierte genießt das Bild in aller Stille.(Anm: 3) Alle Frauen nehmen Posen ein, die sich auf dem Gemälde finden. Das am Boden, direkt unterhalb des Gemäldes liegende Kind, das sich auf Augenhöhe mit den beiden berühmten Putti unterhalb der Sixtina befindet, ist der junge Bonaventura Genelli. Diesen muss die erste inspirierende kindliche Begegnung des durch seinen Vater früh an die bildende Kunst herangeführten etwa Sechsjährigen mit einem Werk Raffaels, wenn auch nur in Kopie im Hause seines späteren Lehrers Friedrich Bury, zweifellos tief beeindruckt haben.
Die von Genelli in seiner Komposition wiedergegebene Kopie Friedrich Burys zeigt den Zustand der Sixtinischen Madonna vor der Restaurierung durch Pietro Palmaroli 1826 in Dresden, also am oberen Rand noch ohne die erst dabei zum Vorschein gekommene Vorhangstange, die bis dahin durch das Umschlagen der Leinwand verborgen gewesen war (vgl. Inv. 15106, 45237).(Anm. 4) Die Kopie war seit 1804 im Roten Eckzimmer des Berliner Schlosses über dem Schreibpult Friedrich Wilhelms III. aufgehängt und wurde 1820 bei den Berliner Feierlichkeiten zu Ehren des 400. Todestages von Raffael ausgestellt. (Anm. 5)
Dem Stich von Merz liegt ein Blatt der zwischen den 1850er Jahren und dem Jahr 1861 gezeichneten Selbstbiographie in Bildern des Berliner Künstlers Bonaventura Genelli zugrunde. Diese wurden mit Erscheinungsjahr 1868, dem Todesjahr des Künstlers, bereits zu Weihnachten 1867 bei der von Heinrich Brockhaus und seinem Sohn Eduard geführten Druckerei F. A. Brockhaus in Leipzig von dem ebenfalls dort ansässigen Verleger Alphons Dürr veröffentlicht. Neben Kaspar Heinrich Merz waren noch die Stecher Johann Burger, Carl Arnold Gonzenbach und Hermann Schütz an der Ausführung beteiligt. Genelli musste die zunächst nur in Umrisslinien mit leichten Schraffuren ausgeführten Vorzeichnungen für Dürr, der dem Künstler für diesen 24 Bilder umfassenden Zyklus 1000 Taler bezahlte, überarbeiten und vereinheitlichen, damit die Stecher besser am einheitlichen Gesamterscheinungsbild der Kupferstichfolge arbeiten konnten. (Anm. 6) Genelli überwachte den Fortgang der Arbeiten an den Platten sehr genau anhand von Probedrucken, in die hinein er Korrekturen zeichnete.
Andreas Stolzenburg

Bussler/Bartoschek 1861/1983, Anhang S. XVIII, mit Abb. S.
XXXII; Genelli/Christoffel 1922, S. 30-32, Taf. IV (zur Vorzeichnung Genellis);
Ebert 1961, S. 177–186 (zum Zyklus allgemein); Ebert 1979, S.102–103 (zur Vorzeichnung Genellis) ; Windholz 2008, S. 223, Abb. 8 (Vorzeichnung Genellis);
Ausst.-Kat. Dresden 2012, S. 269, Nr. 102

1 Friedrich Burys Kopie (1802–1804 entstanden, Öl auf Leinwand, 263 x 201 cm) befindet sich seit 1858 im Raffael-Saal der Orangerie in Potsdam-Sanssouci; Bussler/Bartoschek 1861/1983, S. 53–54, Nr. XXXIX; Ausst.-Kat. Weimar/Hanau 2013, S. 214, Nr. G 11, Abb. auf S. 21.
2 Ebert 1979, S. 103. Friedrich Bury erwähnt Werke Raffaels mehrfach in seinen Briefen an Johann Wolfgang von Goethe und die Herzogin Anna Amalia in Weimar; Bury/Dönike 2007, ad indicem.
3 Max Jordan beschrieb, inspiriert durch Genellis eigene Gedanken, in der Ausgabe von 1868 das Blatt wie folgt: „Ein Freund des Vaters, Bury, hat eine Kopie von Raffaels Sixtinischer Madonna in seinem Haus aufgestellt. Das Bild zu betrachten,
sind kunstsinnige Damen erschienen, vom Zauber der himmlischen Jungfrau gerührt, stimmen sie zu ihrem Preise ein Lied an, dem der Künstler, bescheiden zurücktretend, mit Entzücken lauscht. Am Boden vor der Staffelei lagert sein Hausgenosse, der junge Bonaventura, der im Zimmer gespielt hat; zu seinesgleichen hingezogen, betrachtet er, während die andächtige Weise der Frauenstimmen tönt, die beiden Engelknaben, welch den Sockel des Bildes schmücken.“; Genelli/Christoffel 1922, S. 30, vgl. S. 30–32 (Kommentar Ulrich Christoffel).
4 Bussler/Bartoschek 1861/1983, Anhang S. XVIII.
5 Siehe zur Präsentation des Bildes in Berlin und Potsdam auch Windholz 2008, S. 221, Abb.6 und S. 222, Abb. 7.
6 Die 24 Zeichnungen befinden sich in der Graphischen Sammlung des Museums der bildenden Künste Leipzig; veröffentlicht in: Genelli/Christoffel 1922.

Details zu diesem Werk

Kupferstich, Radierung 313mm x 437mm (Bild) 394mm x 486mm (Platte) 560mm x 762mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett.Erworben 1896 Inv. Nr.: 71882 Sammlung: KK Druckgraphik, Deutschland, 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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