Pietro Santi Bartoli, Radierer
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder
Gian Giacomo de' Rossi, Verleger

Medea auf dem Meer, zwischen 1670 - 1677

Aus: "Parerga atq. ornamenta, ex Raphaelis Sanctij prototypis [...]", Tafel 34

Während die biblischen Szenen der Loggien Raffaels sehr häufig reproduziert wurden, erhielten die zahlreichen, an den dortigen Pilastern oder Bögen angebrachten Stuckreliefs deutlich weniger Aufmerksamkeit. Vor diesem Hintergrund kommt Pietro Bartolis 43-teiliger Folge Parerga atq. ornamenta, ex Raphaelis Sanctij prototypis [...] große Bedeutung zu. Dort werden zahlreiche der stuckierten Figuren und Szenen zwar seitenverkehrt, aber formal relativ getreu wiedergegeben. Anders als in den Loggien weisen die Darstellungen zur besseren Hervorhebung einen dunklen Fond auf. Charakteristisch ist ein freier Umgang bezüglich der Zusammenstellung der Gruppen. So werden Personen auf einem Blatt kombiniert, die sich eigentlich an verschiedenen Positionen der Loggien befinden. Dies gilt etwa für die auf Tafel 43 dargestellten Männer – es handelt sich um einen Färber und einen Zeichner –, die vor Ort nicht zusammen angeordnet sind. (Anm. 1) Angesichts dieser Herangehensweise wundert es kaum, dass auf den Blättern keine Angaben zu den originalen Standorten vermerkt sind.
Unabhängig davon vermittelt Bartolis zwischen 1670 und 1677 (Anm. 2) entstandene Folge einen guten Eindruck von dem schier unerschöpflichen Bilderreichtum der Stuckreliefs: Der Betrachter taucht ein in die vielfältige antike Götterwelt, er wird Zeuge einer Amazonenschlacht oder vom Triumphzug des Bacchus. Und er erlebt die völlig verzweifelte Medea, die mit ihren Kindern auf einem von Schlangen gezogenen Gefährt aufs Meer zieht und im Begriff ist, ihren fürchterlichen Racheplan in die Tat umzusetzen. (Anm.3) Gerade bei der Umsetzung dieser im Bogen des 1. Jochs befindlichen Szene gelang es Bartoli hervorragend, die Dynamik des unaufhaltbaren Unheils wiederzugeben. (Anm. 4)
Die auf ein antikes Sarkophag Relief zurückgehende Medea-Szene veranschaulicht beispielhaft für fast alle Stuckreliefs, wie intensiv sich Raffael und seine Werkstattmitarbeiter mit der Antike auseinandersetzten. (Anm. 5) Gemeinsam studierten sie intensiv Orte wie die Domus Aurea oder das Kolosseum und machten sie für die eigene Ideenwelt nutzbar. So finden sich in den Loggien zahlreiche direkte Zitate, aber auch Variationen und Anverwandlungen. Diese Reliefs wandten sich auch an Connoisseure, die im Wiedererkennen vertrauter Werke ein intellektuelles Spiel sehen konnten. (Anm. 6)
Wie stark der Anteil von Raffael an der Planung der Stuckreliefs war, ist nicht genau zu ermitteln. Angesichts seines ausgeprägten Interesses an antiker Kunst liegt es aber nahe, dass er als eine Art Spiritus Rector fungierte und möglicherweise auch die eine oder andere Anregung gab. Die Umsetzung der Stuckreliefs lag weitgehend in den Händen von Raffaels begabtem Schüler Giovanni da Udine. Doch beschäftigte dieser wie auch im Fall der Medea Assistenten, um der enormen Fülle an Arbeit Herr zu werden.
Warum Pietro Santi Bartoli auf dieses für das Publikum weitgehend unbekannte Themengebiet setzte, ist nicht bekannt. (Anm. 7) Möglicherweise gab der sehr kultivierte Kardinal Camillo Massimo, dem die Folge gewidmet ist, dafür den Anstoß. Denkbar ist auch, dass Bartoli selbst der Initiator war. Der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vornehmlich in Rom tätige Künstler war als Herausgeber umfassender Serien von Reproduktionsgraphiken hervorgetreten. Sein Schwerpunkt lag auf dem Gebiet der Antikenrezeption, was etwa zahlreiche Wiedergaben von Sarkophagen sowie Reliefs der Marc-Aurel-Säule belegen. Ein weiterer Fokus galt dem OEuvre Raffaels, von dem Bartoli neben der Loggien-Serie u. a. auch monochrome Figuren der Sockelzonen in den Stanzen und Darstellungen der heute weitgehend verlorenen Sockelreliefs der Loggien herausbrachte. (Anm. 8)
David Klemm

LIT (Auswahl): Höper 2001, S. 105, S. 466–470, Nr. G 19.19

1 Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 61693. Die beiden Figuren stammen aus zwei Feldern des zweiten Jochs.
2 Die Datierung der Folge kann dadurch eingegrenzt werden, dass in der Widmung der 1670 zum Kardinal ernannte Camillo Massimo mit seinem Titel genannt ist. Massimo stirbt 1677, womit ein zweiter Fixpunkt relativ sicher ist. Eine posthume Widmung wäre ungewöhnlich.
3 Das Hauptmotiv der flüchtenden Medea ist angeregt von einem Sarkophag im Museo Archeologico in Ancona. Der Panther wurde hinzugefügt. Das Stuckrelief stammt von dem sog. Akademischen Gehilfen des Giovanni da Udine; vgl. Dacos 1977, S. 221, Abb. Tafel LXIV b und zur Ableitung Fig. 26.
4 Dacos 1986, S. 219–220, Nr. 1.A.
5 Zu den Stuckreliefs und ihren antiken Bezügen Amelung 1911 und vor allem Dacos 1977 und Dacos 1986.
6 Pfisterer 2019, S. 220–221.
7 Zu Bartoli siehe Koehler 1885, S. 54–56 mit ausführlichem Werkverzeichnis.
8 Es handelt sich wohl um die einzigen Wiedergaben dieser heute verlorenen oder stark beschädigten Szenen; vgl. Borea 2009, Bd. 1, S. 307.

Details zu diesem Werk

Radierung 163mm x 123mm (Platte) 227mm x 339mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 61684 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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