Giulio Bonasone, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder

Bildnis Raffael, um 1540 - 1550

Wollte man sich im frühen 16. Jahrhundert ein Bild von Raffaels Aussehen machen, so war dies weitaus schwieriger, als man sich heute vorzustellen vermag. Tatsächlich gab es zwei Jahrzehnte nach Raffaels Tod lediglich Marcantonio Raimondis enigmatischen Kupferstich (Inv-Nr. 362). Dieser war jedoch durch seinen kunsttheoretischen Gehalt bei gleichzeitigem Verzicht auf eine erklärende Beischrift allenfalls für wenige Kenner verständlich. Offenbar hatte Raffael selbst kein Interesse, sein Bildnis in einer einfacheren Lesart zu verbreiten. Denkbar wäre etwa eine Reproduktion seines heute in den Uffizien bewahrten Selbstbildnisses (Inv-Nr. 63449) gewesen. Dieses Phänomen ist insofern bemerkenswert, als dass der Künstler ansonsten sehr bewusst seinen Nachruhm mittels druckgraphischer Werke steuerte (vgl. Ausstellungskatalog „Raffael. Wirkung eines Genies“ 2021 Kat. 1–13).
Vor diesem Hintergrund kommt Giulio Bonasones Raffael-Bildnis besondere Bedeutung zu. Denn erstmals ist hier auf einer Druckgraphik ein Bildnis durch Inschrift eindeutig als dasjenige Raffaels ausgewiesen. Dieser wird sogar zusätzlich als „eminentiss[ime]“, also als hervorragender Maler charakterisiert. Der Kupferstich zeigt Raffael im Dreiviertelprofil als Halbporträt. Er trägt mittellanges Haar und einen Vollbart. Der Künstler erscheint hier keineswegs als schöner, jugendlicher Mann, wie er spätestens seit dem 18. Jahrhundert gern gesehen wurde (u. a. Inv.-Nr. 63449 und 15058e4). Das Gesicht wirkt sehr rund, wobei die linke Wange des Künstlers sogar geschwollen zu sein scheint. Raffael schaut am Betrachter vorbei, als ob er in Gedanken sei. Keinerlei Attribut weist auf seine Berufstätigkeit hin, was die Inschrift umso wichtiger werden lässt.
Diese nennt als Stecher des Bildnisses Giulio Bonasone, einen der wichtigsten italienischen Graphiker des 16. Jahrhunderts. Er schuf ein reiches Œuvre mit einem Schwerpunkt im Bereich der Reproduktionsgraphik. Bonasone widmete sich auch wiederholt der Verbreitung der Werke Raffaels, beispielhaft genannt seien seine Wiedergaben der Hl. Familie aus dem Hause Canigiani oder der Schlacht an der Milvischen Brücke. Ob diese Beschäftigung mit Raffael den Impuls zu dessen Bildnis gab, muss offen bleiben. In jedem Fall stellt das Porträt Raffaels eine Besonderheit für Bonasone dar, da dieser nur selten Bildnisse anfertigte – eines davon zeigt übrigens Raffaels großen Konkurrenten Michelangelo.
Bonasones Darstellung von Raffael weist einige Ähnlichkeit mit Bildnissen auf Gemälden und Wandmalereien des Künstlers auf. (Anm. 1) Die größte Übereinstimmung besteht eindeutig zum Selbstbildnis Raffaels mit einem Freund, das sich heute im Pariser Louvre befindet (Inv-Nr. R-00042). (Anm. 2) Dieses auch als Bildnis Raffaels mit seinem Fechtmeister bezeichnete Werk zeigt ebenfalls einen bärtigen Mann mit auffallend breitem Gesicht und langem Haar. Wenn aus heutiger Perspektive diese Zuordnung plausibel erscheint, so ist diese Verbindung für einen Künstler des mittleren 16. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlich. Es stellt sich daher die Frage, woher Bonasone, der ja Raffael nicht mehr persönlich kannte, die Anregung für seine physiognomische Ableitung erhalten hat. (Anm.3) Unklar ist auch, wann der undatierte Kupferstich entstanden ist. Die unruhige, bisweilen ungeordnete Strichführung wie auch der ungelenke Schulteransatz und die möglicherweise etwas verzeichnete Wange könnten auf eine frühe Entstehung durch den noch jüngeren Künstler hindeuten. (Anm. 4)
Unabhängig davon kommt diesem Porträt Raffaels große Bedeutung zu, hat es doch das Bild der Nachwelt von diesem Künstler bis heute maßgeblich geprägt. (Anm. 5)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 171–172, Nr. 347; Passavant 1839a, S. 369;
Passavant 1839b, S. 623–624, Nr. 11; Massari 1983, Bd. 1, 88 a; Wagner 1969, S.
105–107; Höper 2001, S. 229, Nr. B 1 (mit älterer Lit.)

1 Ähnlichkeiten bestehen etwa zum Kopf des vorderen Sänftenträgers in der Vertreibung des Heliodor (Inv-Nr. 2431 und 1915-93), in dem heute überwiegend ein Porträt Raimondis vermutet wird. Vergleichbar erscheint auch der zweite Sänftenträger, bei dem der etwas schwächere Bartwuchs und das kürzere Haar sogar besser passen würden.
2 Wagner 1969, S. 107; Pfisterer 2019, S. 324.
3 Wagner 1969, S. 106–107.
4 Die in der Forschung häufig zu findende Datierung „um 1550“ lässt sich m. E. nicht aus dem Werk heraus ableiten.
5 Vgl. hierzu auch Wagner 1969, S. 107, der das Porträt überzogen scharf negativ kritisiert. Das Bildnis fand anhaltendes Interesse, so lässt sich noch 1773 ein Nachdruck von Carlo Losi nachweisen; Höper 2001, S. 229, Nr. B 1.

Details zu diesem Werk

Kupferstich 289mm x 188mm (Platte) 339mm x 234mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 592 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Oliver Schweers, CC-BY-NC-SA 4.0

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