Marco Dente, da Ravenna, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

Venus zieht sich den Dorn einer Rose aus dem Fuß ("La Venere spinaria"), um 1516

Um 1516 entwarf Raffael für ein Badezimmer im Vatikanischen Palast einen kleinen Zyklus mit Szenen aus dem Leben der Venus. Pikanterweise war der Auftraggeber der mit dem Künstler eng bekannte Kardinal Bibbiena, was ein bezeichnendes Licht auf das moralische Selbstverständnis der Kirchenoberen jener Epoche wirft.
Auch wenn die bis Ende 1516 von Raffaels Werkstatt ausgeführten Wandbilder in der sog. Stufetta zum Teil verloren oder schlecht erhalten sind, ist ihre erotische Ausstrahlung noch gut nachvollziehbar. Zu dieser Einschätzung tragen wesentlich mehrere Kupferstiche bei, die bereits unmittelbar nach Fertigstellung der Wandbilder bzw. nach Vorstudien Raffaels angefertigt wurden.
Zu den berühmtesten und schönsten Blättern dieser Gruppe zählt die Darstellung von Venus, die sich einen Dorn aus dem Fuß zieht. Die Geschichte findet sich in den Idyllen des Theokrit und auch in der 1499 veröffentlichten Hypnerotomachia Poliphili des Francesco Colonna. Danach habe sich die Göttin nach dem Tode ihres Geliebten Adonis in einem Wald herumirrend einen Dorn in den Fuß getreten. Durch die Tropfen ihres Blutes hätten die Blüten der Rosen ihre Farbe erhalten.
Der Kupferstich stammt von Marco Dente, der zwischen 1515 und 1527 in enger Zusammenarbeit mit Marcantonio Raimondi zahlreiche Erfindungen Raffaels mittels Reproduktionsgraphiken verbreitete. (Anm. 1) Unklar ist, ob Marco Dente sich von dem heute verlorenen Wandbild oder von einer Vorzeichnung Raffaels anregen ließ. (Anm. 2)
Dente platziert die Venus in einer baumreichen Landschaft. Dortgibt sich die Göttin ihrem Schmerz hin und versucht sich gleichsam bildhaft durch das Ziehen des Stachels von ihrer Leidenschaft zu befreien. (Anm. 3) Dass sie dabei starke erotische Ausstrahlung hat, liegt an der feinsinnig komponierten Körperhaltung. So sind etwa die Beine der Frau zwar weit geöffnet, doch ist der Blick auf die Scham durch ihren rechten Arm verdeckt. Die Körperformen selbst sind weich modellierend herausgearbeitet, was den sinnlichen Reiz steigert. Die Komposition macht den Betrachter zu einem Voyeur, der die in sich versunkene, gleichsam weggetretene Göttin ungestört in ihrer Schönheit betrachten kann. Die unverkennbare sinnliche Komponente der Darstellung wird nicht zuletzt durch den Hasen – einem Symbol der Fruchtbarkeit – unterstrichen. Die Venus verkörpert Raffaels Frauenideal jener Zeit beispielhaft. Es findet sich auch auf dem Urteil des Paris (Inv.-Nr. 296) oder kurz darauf in den Deckenmalereien der Farnesina (Inv.-Nr. 289). Die Komposition ist unverkennbar antikisch inspiriert – man denke an die Figur des Dornenausziehers – und dennoch eine eigenständige Erfindung.
Dentes differenzierte Darstellung unterschiedlicher Stoffe, Materialien und Texturen findet sich auch in der Landschaft, die unverkennbar nordische Züge aufweist und von Graphiken Albrecht Dürers angeregt sein dürfte. (Anm. 4) Die detailreiche Komposition wirkt kontrastreich, was an Dentes Vorliebe für Hell-Dunkel-Darstellungen liegt. Hinsichtlich der Anlage des Strichbildes weist sich der Künstler als lernfähiger Schüler Marcantonio Raimondis aus, im malerischen Ausdruck ist er diesem durch eine verstärkte Stichelarbeit sogar partiell überlegen. (Anm. 5) Dente legt vornehmlich Parallelschraffuren an, vor allem in den Tiefen arbeitet er mit Kreuzlagen. Bei aller Qualität weist die Darstellung auch gestalterische Schwächen auf; man beachte etwa die etwas ungelenk wirkende Schulter- und Rückenpartie, ein Detail, das keineswegs von Raffael stammen dürfte. (Anm. 6)
Unabhängig davon zählt der Kupferstich zu den besten Wiedergaben nach Erfindungen Raffaels. Das undatierte Blatt entstand mit einiger Wahrscheinlichkeit um 1516, als auch die anderen Kompositionen der Stufetta gestochen wurden. Es erfreute sich einiger Popularität, was anhand von Kopien und überarbeiteten Fassungen nachweisbar ist. (Anm. 7)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 241, Nr. 321 I; Ausst.-Kat. Berlin 1992, S.
260, Nr. V.19 (Beitrag Hein-Th. Schulze Altcappenberg); Ausst.-Kat.
Mantua/Wien 1999, S. 107, Nr. 46 (Beitrag Achim Gnann); Meier/Gramaccini
2009, S. 164, Nr. 86 (Beitrag Hans Jakob Meier); Ausst.-Kat. Berlin 2014, S. 248,
Nr. 86, Abb. S. 249; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 82–83, Nr. 19

1 Die Autorschaft Dentes ist durch das von ihm häufig verwendete ligierte Monogramm gesichert.
2 Lediglich eine seitenverkehrte Kopie einer Raffael-Zeichnung ist in Stockholm erhalten. Vgl. Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 532, S. 609, Nr. 532.
3 Ausst.-Kat. Berlin 1992, S. 260.
4 Dieser Einfluss wurde häufig beobachtet; er betrifft etwa die Baumpartien, die sich bei Adam und Eva finden oder bei der Palme auf der Flucht nach Ägypten aus dem Marienleben; vgl. Gramaccini/Meier 2009, S. 164; Shoemaker 1981, S. 186.
5 Ausst.-Kat. Berlin 1992, S. 260.
6 Shoemaker 1981, S. 186.
7 Vgl. Inv.-Nr. 507 (späterer Zustand) und 507a (anonyme Kopie).

Details zu diesem Werk

Kupferstich 266mm x 176mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 506 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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