Raffaello Sanzio Morghen, Radierer
nach Pietro Ermini, Zeichner
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder
Niccolò Pagni, Verleger
Aloysius Bardi, Verleger

Die Madonna mit dem Distelfink, sog. "Madonna dell Cardellino", 1814

Die vorliegende Graphik entstand nach Raffaels Madonna del Cardellino. Das Gemälde wurde 1506 vermutlich als Hochzeitsbild (sog. quadro di sposa) anlässlich der Vermählung des Auftraggebers Lorenzo Nasi mit Sandra di Matteo Canigiani bestellt. Beim Einsturz von dessen Haus im Jahr 1547 wurde das Gemälde stark beschädigt, konnte jedoch aus den Trümmern geborgen werden und wurde anschließend restauriert. 1666 kam es in Besitz der Medici und befindet sich noch heute in den Uffizien. (Anm. 1) Es haben sich mehrere Zeichnungen (u.a. im Bestand des Ashmolean Museums in Oxford) erhalten, die mit dem Gemälde in Verbindung gebracht werden können. (Anm. 2) Maria sitzt auf einem Stein in einer Landschaft. In ihrer linken Hand hält sie ein Buch, den rechten Arm hat sie um den kleinen Johannes den Täufer gelegt, welcher einen Stieglitz in den Händen trägt. Der Christusknabe zwischen ihren Beinen streicht über den Kopf des Tieres. Da der Vogel, auch unter dem Namen Distelfink bekannt, sich bevorzugt von Samen der Distel ernährt, wurde er in Verbindung mit jener kargen Nahrung als Passionssymbol gedeutet. (Anm. 3)
Unter den von Raffael gemalten Madonnen finden sich zahlreiche, bei denen Maria mit Christus und Johannes im Kindesalter dargestellt sind. Kompositorische Ähnlichkeiten ergeben sich besonders mit der Madonna del Prato und der sog. Schönen Gärtnerin (vgl. Inv.-Nr. 50028 und 16484a). Auch hier wurde dieselbe Personengruppe in ähnlicher Weise in eine Landschaft eingefügt. Ein Stieglitz taucht zuvor bereits bei der Madonna Solly auf. (Anm. 4)
Morghen gelingt mit seinem Stich eine meisterhafte Annäherung an das Gemälde. Bis auf geringe Abweichungen, beispielsweise in Bezug auf die Position der Wolken oder auf die etwas stärkeren Ausdifferenzierungen der Muskelpartien beim Körper des Christusknaben, überzeugt das Blatt durch die Wiedergabe der Stofflichkeiten und der Übersetzung des Originalkolorits sowie des leichten Sfumato- Effektes im Hintergrund in sensible tonale Abstufungen.
Raphael Morghen, auf italienisch Raffaello Sanzio Morghen, dessen Name kaum zufällig wie eine Hommage an den wie kein Zweiter verehrten Renaissancekünstler erscheint, gilt als einer der wichtigsten italienischen Stecher seiner Zeit und war unter anderem für Napoleon Bonaparte und ab 1813 für Ferdinand III., Großherzog der Toskana, tätig. Unter Ludwig XVIII. wurde er aufgrund seiner guten Beziehungen nach Frankreich in die Ehrenlegion aufgenommen. (Anm. 5)Sein Schüler Niccolò Palmerini veröffentlichte noch vor seinem Tod ein Werkverzeichnis, in welchem 254 Blätter aufgeführt sind – darunter
auch zahlreiche Arbeiten nach Raffael (Inv-Nr. 3152a, 3152r1, 40457). (Anm. 6) Wie auch Morghens Stich nach der Madonna della Sedia (Inv.-Nr. 50034) zeugt das vorliegende Blatt von der großen Virtuosität des Stechers.
Klara Wagner

LIT (Auswahl): Palmerini 1824, S. 150, Nr. 213; Nagler 9 (1840), S. 478, Nr. 90
Höper 2001, S. 292, Nr. D 9.1 (mit älterer Lit.)

1 1506/07, Öl auf Holz, 107 x 77 cm, Florenz, Galleria degli Uffizi; Meyer zur Capellen 2001, S. 221–222, Nr. 27; vgl. Höper 2001, S. 291, Nr. D 9; Ausst.-Kat. Florenz 2008.
2 Meyer zur Capellen 2001, S. 221–222, Nr. 27.
3 Höper 2001, S. 291, Nr. D 9.
4 Meyer zur Capellen 2001, S. 222, Nr. 27S. Die Forschung nennt Michelangelos Brügger Madonna als mögliches Vorbild für die Position des Christusknaben zwischen den Beinen seiner Mutter.
5 Mariano 2016, S. 489.
6 Siehe Palmerini 1824; Meyers Großes Konversations-Lexikon 14 (1908), S. 145.

Details zu diesem Werk

Radierung, Kupferstich 498mm x 338mm (Platte) 611mm x 441mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 50039 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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