Pietro Anderloni, Stecher, Herausgeber
nach Tommaso Minardi, Zeichner
und G. Consonni, Zeichner
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder
Giuseppe Cornienti, Drucker

Das Urteil des Salomo, 1845

Das Urteil Salomos zählt zu den bekanntesten Geschichten des Alten Testaments. Zwei Frauen hatten behauptet, die Mutter eines Neugeborenen zu sein. Da sie sich nicht einigen konnten, gab König Salomo die Anweisung, das Kind zu teilen, so dass jede Frau eine Hälfte bekäme. In diesem Augenblick zeigte sich die wahre Mutter: Sie verzichtete, damit ihr Kind am Leben bleibt (1 Könige 3,16–28).

Raffael beschäftigte sich mindestens zweimal mit diesem bewegenden Ereignis. In den Loggien schilderte er das Urteil in einer breit angelegten bühnenartigen Szenerie. Bereits einige Jahre zuvor hatte er das Drama in einem Gewölbezwickel der Stanza della Segnatura angebracht. Dort blieb es allerdings Jahrhunderte hindurch von der Reproduktionsgraphik weitgehend unbeachtet. Dies ist erstaunlich, da es sich bei dieser Komposition um eine der besten Erfindungen Raffaels handelt.

Umso verdienstvoller ist daher ein 1845 von Pietro Anderloni vollendeter Kupferstich. Er gibt die geniale, durch Überschneidung der Körper extrem spannungsreiche Komposition sehr genau wieder. Sichtbar wird, wie wirkungsvoll Raffael die handelnden Akteure kontrastiert, etwa den in sich ruhenden König mit dem gerade zur Tat schreitenden Gehilfen. Dieser in starker Drehung befindliche kraftvolle Mann zeigt Raffael als einen Meister der Anverwandlung antiker Kunst, denn die Figur ist unzweifelhaft von einem der sog. Dioskuren auf dem römischen Quirinal angeregt.

Anderlonis Reproduktion erzielt ihre packende Wirkung zum einen aufgrund des großen Formats, durch das die Szene monumentalisiert wird. Zum anderen trägt die spezielle Technik des Graphikers entscheidend zu der von dem Blatt ausgehenden Faszination bei. Anderloni war ein Vertreter des strengen Linienstichs, wodurch seine Figuren eine fast metallisch harte Ausstrahlung erhalten. Während Raffael die Szene in eher gedämpfte Farben hüllte, arbeitete Anderloni in seiner schwarzweißen Umsetzung viel stärker die Wirkung von Licht und Schatten heraus. Besonders anschaulich ist dies beim nackten Mann, dessen linker Oberkörper, einschließlich des Tuches, gegenüber der Vorlage akzentuiert wird. Auf diese Weise wird das brutale Geschehen für den Betrachter fast unerträglich, gleichsam gestochen scharf vor Augen geführt.

Anderloni belegte mit diesem Werk nachdrücklich, über welch herausragende Qualitäten er als Reproduktionsgraphiker verfügte. (Anm. 1) Der aus Brescia stammende Künstler war in Mailand bei dem berühmten Giuseppe Longhi (vgl. Inv.-Nr. 50007) in die Lehre gegangen und später an der Accademia di Brera dessen Nachfolger im Lehramt für Kupferstich geworden. In seinem reichen Oeuvre finden sich wiederholt Reproduktionen nach Raffael, aber auch nach Tizian oder Guido Reni.

Warum Anderloni diesen imposanten Stich am Ende seiner Laufbahn schuf, ist unklar, doch scheint er ihn laut Inschrift, wie auch für andere Reproduktionsgraphiker im 19. Jahrhundert nachweisbar, selbst verlegt zu haben. Möglicherweise erhoffte er sich eine Gratifikation durch die Widmung an den Habsburger Ferdinand I. Dieser war 1845 nicht nur Kaiser von Österreich, sondern auch König der Lombardei und damit der Landesherr Anderlonis.
David Klemm

LIT (Auswahl): Meyer 1872, S. 676, Nr. 2 VI (von VI); Apell 1880, S. 13, Nr. 2 VI
(von VI); Höper 2001, S. 391, Nr. F 6.17; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 176–177, Nr. 63

1 Zu Anderloni vgl. Ausst.-Kat. Mailand 1996, S. 72–107; Ausst.-Kat. Brescia 2020.

Details zu diesem Werk

Kupferstich; Radierung, Nadelschrift; fest aufgezogen 618mm x 448mm (Bild) 878mm x 686mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 50018 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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