Marco Dente, da Ravenna, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

Der Zweikampf der Faustkämpfer Entellus und Dares, um 1520-1523

Zwei Kämpfer stehen sich Auge in Auge in geringem Abstand gegenüber. Ihre Blicke treffen sich und es hat den Anschein, als ob sie durch das starre Fixieren den Gegner verunsichern wollten. Die weit ausgreifenden, z. T. erhobenen Arme zeigen, dass die beiden mit kurzen Chitons bekleideten Athleten im wahrsten Sinne des Wortes mit den Muskeln spielen. Ihre Bewegungen haben eine fast tänzerische Eleganz, doch im nächsten Augenblick könnte sich aus diesem Abtasten ein heftiger Schlagabtausch entwickeln. Hierfür sind beide Kämpfer mit ihrem Schutz für die Fäuste und Unterarme gut vorbereitet. Sie befinden sich in unmittelbarer Nähe des Kolosseums und damit vor der berühmtesten Wettkampfstätte der römischen Antike. Diese spannungsvolle Kampfszene zeigt ein hervorragender Kupferstich des um 1515 bis 1527 nachweisbaren Marco Dente. Laut Inschrift handelt es sich um einen von Vergil in der Aeneis sehr anschaulich geschilderten Wettkampf (Buch 5, 362–484). Danach hatten Aeneas und seine Gefährten auf Sizilien zu Ehren des verstorbenen Anchises Festspiele veranstaltet. Im Rahmen dieser Feier kämpfte der vor Energie strotzende Dares gegen den schon betagten Entellus. Nach einem blutigen Kampf siegte der Ältere über die jugendliche Kraft. Er gewährte dem Dares das Leben, tötete aber einen Stier, den er als Siegerpreis erhalten hatte. Der Kupferstich zeigt nichts von dem grausamen Schlagabtausch und konzentriert sich voll und ganz auf das eher psychologische Vorspiel der Auseinandersetzung. Vergils Beschreibung ist dabei relativ genau beachtet worden. (Anm. 1) Die Körper der Kämpfer sind in großen, locker geführten Linienzügen modelliert, Kreuzschraffen sind dagegen sparsam eingesetzt. Auch das Weiß des Papierträgers wird bildwirksam verwendet. (Anm.2) Während die Autorschaft Marco Dentes am um 1520/23 (Anm. 3) entstandenen Kupferstich durch seine Signatur gesichert ist, besteht über den Urheber der Komposition Uneinigkeit. Die Mehrzahl der Forscher schreibt den Entwurf Raffael zu, doch wurden auch Giulio Romano oder gar Baccio Bandinelli in Erwägung gezogen. (Anm. 4) In Abwägung der Argumente scheint eine Zuweisung des Entwurfs der Kampfszene an Raffael sehr wahrscheinlich. Hierfür spricht grundsätzlich die Komposition, die sehr lebendig und dynamisch, gleichermaßen aber auch kontrolliert und ausgewogen angelegt ist. Hervorragend gelöst ist die räumliche Einbindung der Athleten. Die anspruchsvolle Verschränkung ihrer Körper schafft einen geradezu dreidimensionalen Wahrnehmungseffekt. Diese Qualitäten sprechen ebenso für Raffael wie das unverkennbare Interesse an der Antike. (Anm. 5) Letzteres äußert sich in der recht genauen Verwendung der Schutzkleidung wie auch in der Darstellung des Kolosseums. Dabei wurde eine Zeichnung aus dem sog. Codex Escurialensis verwendet, wie es mehrfach für Raffael (und dessen Werkstatt) nachweisbar ist. (Anm. 6) Es spielte offenbar keine Rolle, dass damit der von Vergil vorgegebene Ort auf Sizilien unbeachtet blieb. Für Raffael spricht auch, dass er sich wiederholt mit Vergil befasste und möglicherweise eine größere Edition plante (vgl. Inv-Nr. 296 und 328). Die unmittelbare Anregung zu der Komposition könnte Raffael durch ein um 1500 auf dem Trajansforum gefundenes Fragment eines stattlichen antiken Reliefs von 116 cm Höhe erhalten haben. (Anm. 7) Es zeigte lediglich den Oberkörper eines bartlosen jungen Mannes, der in sehr ähnlicher Form dann auf dem Kupferstich dargestellt wurde. Denkbar ist, dass Raffael das Fragment zu einer Kampfszene nach Vergil ergänzte und in einer nicht erhaltenen Zeichnung festhielt. Diese wurde dann von Dente in einen Kupferstich übertragen. Marco Dente zählt zu der kleinen Gruppe von Reproduktionsstechern im Umkreis von Marcantonio Raimondi, die um 1515/30 eine größere Anzahl von Entwürfen bzw. Vorlagen von Raffael in Kupferstiche übertrugen und damit dessen Erfindungen einer breiten Öffentlichkeit bekannt machten.
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 159, Nr. 195; Howard 1993, S. 238–256 u.
Taf. 37a; Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 286, Kat-Nr. 286; Gramaccini/Meier
2009, S. 165 Nr. 90 (Beitrag Hans Jakob Meier)

1 Vergil beschreibt anschaulich die Kampfvorbereitung des Dares, die mit Sicherheit in die Gestaltung der Komposition eingeflossen zu sein scheint: „So hob Dares sein Haupt hoch auf zum Beginne des Kampfes, / Zeigte den Nacken, so breit wie er war, und reckte die Arme / Wechselnd empor und zerteilte die Luft mit gewaltigen Hieben.“, Vergil, Aeneis, Buch 5, 375–378. Auch das eigentliche Kampfgeschehen dürfte die Bildfindung beeinflusst haben: „Fest stehn beide sogleich und gestreckt, auf die Zehen erhoben, / Holen sie furchtlos hoch in die Luft mit den Armen zum Hieb aus / Ziehen das ragende Haupt vor dem Schlag zurück und vermischen / Gegnerisch Faust mit Faust und reizen sich neckend zum Kampfe.“; Vergil, Aeneis, Buch 5, 426–429.
2 Gramaccini/Meier 2009, S. 165.
3 Zur Datierung vgl. Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 286.
4 Die Autorschaft Raffaels wurde vor allem von Gnann im Ausst.-Kat. Mantua/ Wien 1999, S. 286 in Frage gezogen. Seine Argumentation wurde aber überzeugend von Bloemacher 2016, S. 71–72 wiederlegt. Entscheidend ist, dass eine letztlich stichhaltige Zuschreibung aufgrund der fehlenden Vorzeichnung spekulativ bleiben muss. Die von Gnann in Anschluss an Oberhuber vorsichtig in Erwägung gezogene Autorschaft von Bandinelli erscheint wenig zwingend und findet wohl auch im zeichnerischen Werk dieses Künstlers keine Entsprechung; vgl. Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 286.
5 Raffael war seit 1514 Oberaufseher der römischen Antiken und beschäftigte sich spätestens seitdem intensiv mit allerlei Facetten des Altertums. Die durch seinen frühen Tod unterbrochenen Aktivitäten gipfelten in einem Empfehlungsschreiben an Papst Leo X. zur Erhaltung der in Rom noch vorhandenen Altertümer.
6 Es handelt sich um drei Bände mit Zeichnungen, die in einem Codex zusammengefügt wurden. Dieser befindet sich seit 1509 in Spanien. Raffael entlehnte daraus Motive, etwa für die Madonna Esterházy oder den Bethlehemitischen Kindermord. Bei dem vorliegendem Blatt wurde eindeutig der rechte Teil der Architektur von einer Zeichnung aus dem Codex übernommen. Dies betrifft nicht nur das Motiv, sondern auch die Größe. Vgl. Bloemacher 2016, S. 65, 71–72 mit Abb. S. 72; zur Autorschaft der Zeichnungen vgl. Bloemacher 2016, S. 333, Anm. 200.
7 Krug 1975; Viljoen 2001.

Details zu diesem Werk

Kupferstich 313mm x 275mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 500 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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