Agostino dei Musi (gen. Veneziano), Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder

Evangelisten (Gruppe des Pythagoras aus Raffaels Schule von Athen), 1523

Kurz nachdem Papst Julius II. im Frühjahr 1508 Michelangelo mit der Ausmalung der Sixtinischen Kapelle beauftragt hatte, wollte er auch einige weltliche Räumlichkeiten im vatikanischen Palast verändern lassen. (Anm. 1) Dies entsprach seinem Selbstverständnis, denn Julius war nicht nur Oberhaupt der Christenheit, sondern auch ein sehr profan orientierter Landesherr des Kirchenstaates. So wünschte er in seinen repräsentativen Amtsräumen ein Bildprogramm, das seine Vorstellung von der weltgeschichtlichen Bedeutung des Papsttums visualisierte und seine eigenen ambitionierten Ziele historisch legitimierte. (Anm. 2) Julius plante das Projekt für vier Räume im zweiten Obergeschoss des Traktes am neuen Belvedere-Hof. Dabei handelte es sich um drei hohe, gewölbte Zimmer (ital: Stanze) von jeweils etwa 70 qm und einen sich anschließenden Saal von etwa 150 qm . Ob die Ausstattung aller vier Räume von Beginn an geplant war, ist nicht sicher. Jeder Raum bietet aber für sich ein in sich geschlossenes ikonographisches Programm, an dessen Ausarbeitung gelehrte Geistliche beteiligt waren. In der Summe entstand ein faszinierendes Ensemble mit Allegorien, Historienbildern und christlichen Themen, in dem Religion, Wissenschaft, Recht und Kunst miteinander verwoben sind. (Anm. 3) Es gehört zu den großen Glücksfällen der Kunstgeschichte, dass Papst Julius II. den damals gerade 25jährigen Raffael mit der ambitionierten Aufgabe der Ausmalung der Zimmer betraute. Dabei stieg Raffael zunächst gegen Ende 1508 in ein bereits begonnenes Projekt ein. Doch es gelang ihm in kurzer Zeit, weiter daran arbeitende renommierte Kollegen wie Perugino oder Sodoma beiseite zu schieben. Fortan war er der alleinige Leiter, was auch unter dem seit 1513 amtierenden Papst Leo X. so bleiben sollte. Unter diesen Voraussetzungen konnte Raffael in den folgenden gut zehn Jahren bis zu seinem frühen Tod die Stanza della Segnatura (vergl. Katalog-Nrn. 16-37 in Raffael. Wirkung eines Genies, 2021), die Stanza di Eliodoro (vergl. Katalog-Nrn. 38-45 in Raffael. Wirkung eines Genies, 2021), die Stanza dell’Incendio (vergl. Katalog-Nrn. 46-50 in Raffael. Wirkung eines Genies, 2021) und Teile der Sala di Costantino (vergl. Katalog-Nrn. 51,54 in Raffael. Wirkung eines Genies, 2021) vollenden. Spätestens ab 1514 wurde er maßgeblich durch ein Team junger, hochbegabter Maler wie Giulio Romano und Giovan Francesco Penni unterstützt. Raffael schuf mit dieser Bildfolge hinsichtlich der unübertrefflichen Figurenbildung wie auch im geistigen Gehalt ein Hauptwerk der europäischen Kunst, das die Menschen seit jeher in ihren Bann gezogen hat. Besonderes Interesse fand dabei stets die um 1509 ausgeführte Schule von Athen, eines der beiden Hauptbilder in der Stanza della Segnatura. (Anm. 4) Das Bild veranschaulicht das Thema der Philosophie. Die Darstellung ist in der Antike angesiedelt, worauf nicht nur die imposante Architektur, sondern auch die Gewänder der Personen hinweisen. Zu sehen sind zahlreiche bedeutende Denker, aber auch Wissenschaftler und zeitgenössische Persönlichkeiten, die sich auf sehr unterschiedliche Weise miteinander austauschen. Im Zentrum befinden sich Platon und Aristoteles, die herausragenden Philosophen des Altertums, in eine Diskussion vertieft. Erstaunlicherweise dauerte es bis 1550, ehe Giorgio Ghisi eine Reproduktion der gesamten Komposition der Schule von Athen vorlegte (Inv.-Nr. 719). Bis dahin wurden lediglich Details veröffentlicht und diese nur in sehr geringer Anzahl. (Anm. 5) Von besonderem Interesse ist dabei ein 1523 datierter Kupferstich Agostino Venezianos, der auf den ersten Blick eine Gruppe von mehreren Personen aus dem linken vorderen Bereich der Schule von Athen zu zeigen scheint. (Anm. 6) Raffael hatte hier den griechischen Mathematiker Pythagoras und seine Schüler in einer famosen Komposition dargestellt. Auf den zweiten Blick ist aber zu erkennen, dass Veneziano Raffaels Vorgabe derart stark veränderte, dass die Betrachter nun eine christliche Szene vor sich hatten. So wurde aus Pythagoras der Evangelist Matthäus, der sich von dem neben ihm befindlichen Engel den Text des Evangeliums diktieren lässt. Anstelle des Harmonie-Schaubildes von Pythagoras sind auf Venezianos Stich nun griechische Wörter des Evangeliums eingefügt. Die stehende Jünglingsfigur lässt sich dementsprechend als Evangelist Johannes deuten. Hinzu kamen noch weitere Veränderungen, von denen die Andeutung des Pantheons besonders wichtig ist. Unverkennbar spielt die Szene nun nicht mehr in Athen, sondern in Rom, dem damaligen Zentrum der Christenheit. Warum Veneziano diese weitreichenden Eingriffe vornahm, ist nicht bekannt. Denkbar ist, dass er sich von einer christlichen Szene einen größeren Verkaufserfolg versprach. Sicher ist hingegen, dass Venezianos Interpretation lange Zeit großen Einfluss auf die Wirkungsgeschichte von Raffaels Hauptwerk haben sollte (Inv.-Nr. 719).
David Klemm

LIT (Auswahl) : Bartsch XIV (1813), S. 366, Nr. 492; Höper 2001, S. 375-376, Nr. F 2.3 (mit älterer Literatur); Keazor 2021, S. 49–51

1 Ausst.-Kat. Dresden 1983, S. 57.
2 Ebd.
3 Ausst.-Kat. Dresden 1983, S. 57. Die Literatur zu den Stanzen ist sehr umfangreich. Hier seien stellvertretend für viele bedeutende Untersuchungen nur wenige Autoren genannt, bei denen sich stets auch weitere Literaturangaben befinden: Dussler 1966, S. 79–98; Höper 2001, S. 369–419; Kliemann/Rohlmann 2004, S. 124–182; Frommel 2017; Pfisterer 2019, S. 106–137, 214–218, 272–280; vgl. auch die Angaben bei den Nummern 18–54 in diesem Band.
4 Keazor 2021 (mit älterer Lit.); vgl. auch die Ausführungen Klara Wagners in diesem Band, S. 574.
5 Die wohl erste Darstellung dieser Art schuf Marcantonio Raimondi bereits um 1510 mit einer Wiedergabe der im rechten Hintergrund befindlichen Nischenfigur des Apoll mit Lyra; Höper 2001, S. 375, Nr. F 2.1.
6 Vgl. die ausführliche Analyse von Keazor 2021, S. 50–51.


Details zu diesem Werk

Kupferstich 445mm x 331mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 46791 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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