Johann Friedrich Wilhelm (genannt Friedrich) Müller, Stecher
nach Apollonia Seydelmann, Zeichnerin
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler
Heinrich Rittner, Verleger

Sixtinische Madonna, 1816 (vollendet)

August III. hegte den großen Wunsch, ein Werk Raffaels zu besitzen, das seine Bildersammlung aufwerten würde – schließlich stand man in Konkurrenz zu den anderen europäischen Herrscherhäusern. (Anm. 1) Bereits 1743 hatte er seinen Kunstagenten Francesco Algarotti mit einer Liste von Künstlernamen nach Italien geschickt, um wichtige Bilder für seine Sammlung anzukaufen. Doch es war nahezu unmöglich, Werke des italienischen Renaissancekünstlers auf dem Markt zu erwerben. (Anm. 2) Der kaum noch erwartete glückliche Abschluss der Bemühungen trat ein, nachdem sich im Frühjahr 1752 der Agent Giovanni Battista Bianconi im Auftrag des sächsischen Kurfürsten in Piacenza um den Ankauf der Sixtinischen Madonna bemüht und mit den Verhandlungen begonnen hatte. Der Erwerbungsprozess erwies sich allerdings als äußerst langwierig und war immer wieder vom Scheitern bedroht. Letztlich erteilten aber sowohl Papst Benedikt XIV. als auch der für Piacenza zuständige Herzog von Parma ihre Zustimmung. (Anm. 3) Am 21. Januar 1754 reiste der Transport mit der Sixtinischen Madonna in Richtung Dresden ab. (Anm. 4) 25.000 scudi romani hatte man letztendlich für das Bild bezahlt – immerhin der bislang teuerste Kunstankauf für den Dresdener Hof. Für die Strecke über Cremona, Brescia, Trient, Innsbruck und Augsburg benötigte man im Winter fast sechs Wochen. Am 1. März 1754 wurde das Gemälde im Audienzsaal des Dresdener Residenzschlosses präsentiert und der Legende nach soll August III. mit den Worten „Platz für den großen Raffael!“ eigenhändig seinen Thronsessel beiseitegeschoben haben, so glücklich sei er über die Ankunft des Meisterwerkes gewesen. (Anm. 5)
Nach dieser ereignisreichen und letztlich glücklichen Erwerbungsgeschichte dauerte es noch gut dreißig Jahre, bis mit Schultzes Kupferstich erstmals eine weitgehend vollständige Reproduktion der Sixtinischen Madonna vorlag (Inv.-Nr. 15106). In den folgenden Jahren stieg mit wachsender Popularität des Gemäldes auch die Nachfrage nach graphischen Bildern. Um 1808 beauftragte der Dresdner Verleger Heinrich Rittner den versierten Stecher Johann Friedrich Wilhelm Müller mit einer Reproduktion der Madonna – diese Aufgabe sollte ihn bis kurz vor seinem frühen Freitod über alle Maßen beanspruchen.
Müller griff für seine Reproduktion auf eine relativ weiche Sepiazeichnung von Apollonia Seydelmann zurück, benutzte aber auch eigene und ihm zur Verfügung gestellte Studien. (Anm. 6) Der Graphiker war sogar extra nach Italien gereist, um in Rom Raffaels dort befindliche Werke zu studieren, aber auch um dort dem Genius loci nachzuspüren (vgl. Inv.-Nr. 16053).
Auf dieser Grundlage entstand in intensiver Arbeit bis 1816 eine Reproduktion, die aufgrund ihrer präzisen Wiedergabe und brillanten technischen Ausführung als die „gewissenhafteste und zugleich die am meisten verstandene Nachahmung eines unschätzbaren Bildes“ (Anm. 7) gerühmt wurde. Im Unterschied zu Schultze ging es Müller um „weitgehende Wirkungstreue bei möglichst großer Detailtreue“. (Anm. 8) Beispielsweise überzeugt Müller in der Wiedergabe der Plastizität der Gewänder, gerade weil er auf allzu starke Detailgenauigkeit verzichtet. Zudem ist sein Werk weicher und kontrastreicher und auch die anatomischen Einzelheiten sind besser gelungen. (Anm. 9) Wie bei Schultze fehlt auch bei Müller noch die erst 1826 freigelegte Vorhangstange (vgl. Inv.-Nr. 15106).
Die in einer Mischtechnik aus Kupferstich und Radierung ausgeführte Reproduktion erfreute sich großer Beliebtheit. Da Müller kurz nach der Fertigstellung verstarb, verdiente der Verleger Rittner an dessen Stelle ein Vermögen. Die viel benutzte Platte musste mehrfach aufgestochen und überarbeitet werden. (Anm. 10) Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand Müllers Stich als Ausstattungsstück Eingang in zahlreiche bürgerliche Haushalte, denn eine Reproduktion der Sixtinischen Madonna gehörte in jener Epoche zum selbstverständlichen Inventar. (Anm. 11) Und so schrieb Goethe 1816 an Rittner: „Der treffliche Müllersche Kupferstich nach der Raphaelischen Madonne [sic] ist mir zu Gesicht gekommen und hat mir großes Vergnügen geweckt. Nun wünsche ich ein Exemplar selbst zu besitzen.“ (Anm. 12)
Sandra Pisot

LIT (AUSWAHL): Putscher 1955, S. 276–77; Rümelin 2000, S. 67–70, S. 228–
229, Nr. 59 (mit älterer Lit.); Höper 2001, S. 313–314, Nr. D 34.2 (mit weiterer
Lit.); Ausst.-Kat. Dresden 2012, S. 240–241, Nr. 67–69 (Beitrag Christoph Schölzel)

1 Vgl. Henning 2012, S. 38–40. Die Sammlung der sächsischen Kurfürsten ging aus der um 1560 gegründeten Kunstkammer hervor und war Teil der höfischen Repräsentation. Die Bildergalerie wurde 1746 im ehemaligen kurfürstlichen Stallgebäude eingerichtet.
2 So scheiterte Ende 1750 aus nicht überlieferten Gründen der Versuch, Raffaels Madonna di Foligno für den sächsischen Hof zu erwerben; vgl. Brink 2005, S. 58, Anm. 13.
3 Fast ein Jahr lang diskutierte man um den Preis, schließlich wollte das Kloster in Piacenza seine Schulden mit dem Erlös tilgen. Erst am 9. März 1753 wurde die Verkaufsbestätigung zwischen dem Abt von San Sisto, Benedetto Vittorio Caracciolo, und Giovanni Battista Bianconi unterschrieben. Selbst Papst Benedikt XIV., der seine Zustimmung für eine solche Veräußerung geben musste, stand dem Vorgang positiv gegenüber. Nur der Herzog von Parma verweigerte als Landesherr von Piacenza seine Zustimmung. Alle Bemühungen schienen bereits gescheitert zu sein, bis August III. den Herzog auf diplomatischem Weg umstimmen konnte und sich schließlich auch Zollprobleme gelöst hatten; vgl. ausführlich Brink 2012, S. 70–72.
4 Zuvor war am 1. Dezember 1753 das Gemälde vom Altar in San Sisto abgenommen und durch eine Kopie des Malers Pier Antonio Avanzini ersetzt worden.
5 Dieses Ereignis nahm der Berliner Maler Adolph von Menzel zum Anlass für sein Bild mit gleichnamigem Titel: Platz für den großen Raffael!, 1855/59, Gouache und Pastell auf Papier, auf Pappe montiert, 460 x 620 mm, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Inv.-Nr. Gm 1753, vgl. Ausst.-Kat. Dresden 2012,
S. 222; siehe auch den Beitrag von Andreas Stolzenburg in diesem Band,
S. 82.
6 Vgl. Rümelin 2000, S. 68.
7 Ausst.-Kat. Stuttgart 2004, S. 184.
8 Rümelin 2000, S. 68.
9 Die in der Wiedergabe von Schultze erkennbaren anatomischen Schwächen könnten auf die nicht erhaltene Vorzeichnung zurückzuführen sein.
10 Vgl. Höper 2001, S. 95.
11 Vgl. Füßli 1815, S. 86.
12 Goethe 1987, WA, S. 292. Goethe verfasste auch eine sehr lobende Besprechung von Müllers Reproduktion in Ueber Kunst und Alterthum; siehe Höper 2001, S. 92–95.

Details zu diesem Werk

Kupferstich und Radierung, Chine-collé 652mm x 497mm (Bild) 760mm x 551mm (Blatt) 768mm x 555mm (Platte) 912mm x 650mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 45237 Sammlung: KK Druckgraphik, Deutschland, 15.-18. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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