Balthasar Denner

Junges Mädchen mit aufgestütztem rechten Arm, 1713

Die folgenden 24 Blätter mit dem Brustbild eines jungen Mädchens stammen wahrscheinlich alle aus einem aufgelösten Skizzenbuch. Denner hat das Mädchen gegen Ende des Jahres 1713 über einen Zeitraum von etwa zwei Monaten im Scharrenkamp, wo Denner damals offensichtlich wohnte, wiederholt gezeichnet. Traditionell sind die Zeichnungen als Bildnisse von Denners Frau Esther Winter bezeichnet(Anm. 1), die er 1712 geheiratet hatte. Von Esther Winter existieren Bildnisse von Denner aus den 30er Jahren, die allerdings den Schluss zulassen, dass es sich bei der auf den Zeichnungen dargestellten jungen Frau wahrscheinlich nicht um Denners Frau handelt.(Anm. 2)
Einige der Blätter tragen neben der Ortsangabe auch eine taggenaue Datierung, weshalb sich einzelne Sitzungen genau bestimmen lassen. Soweit diese sich anhand des Hamburger Bestandes rekonstruieren lassen, begann das unbekannte Mädchen möglicherweise am 8. November auf dem vorliegenden Blatt mit dem Modellsitzen.(Anm. 3) Weitere Sitzungen fanden auf jeden Fall am 19. November 1713 (Inv.-Nr. 43989), am 22. November 1713 (Inv.-Nr. 43969), am 7. Dezember (Inv.-Nr. 43981), am 9. Dezember (Inv.-Nr. 43986), am 19. (Inv.-Nr. 43975), am 21. (Inv.-Nr. 43982), am 25. (Inv.-Nr. 43978) und zuletzt am 31. Dezember 1713 (Inv.-Nr. 43990) statt. Einige der taggenau datierten Blätter tragen zusätzlich eine weitere Bezeichnung (Inv.-Nrn. 43969, 43975, 43978, 43981, 43982, 43989 und 43990), die rätselhaft erscheint: Als erstes Zeichen gibt Denner offensichtlich einen Buchstaben – möglicherweise einen griechischen – an, dem auf den datierten Blättern bis auf eine Ausnahme (Inv.-Nr. 43989) eine arabische „1“ folgt. Denner hat auf den datierten Blättern verschiedene Buchstaben benutzt, die auch auf undatierten Blättern auftauchen, allerdings dann mit einer fortlaufenden Zählung arabischer Ziffern. Wahrscheinlich liegt in diesen mit einem gemeinsamen Buchstaben versehenen Blättern, von denen das erste datiert ist, eine Folge von Zeichnungen vor, die an dem auf dem ersten Blatt angegebenen Tag entstanden sind. Denner hat die an einem Tag entstandenen Blätter offenbar zu einer Art „Serie“ zusammengestellt, doch ist in den Blättern einer „Serie“ kein Bewegungsablauf oder ähnliches feststellbar. Obwohl Denner als Bildnismaler gerühmt wurde, ging es ihm nicht um die individuelle Darstellung einer bestimmten Person, sondern um die Erfassung von Typen und Zuständen. Nur unter dieser Voraussetzung ist Denners „serielles“ Arbeiten zu erklären.
Neben Hamburg besitzt Berlin ein großes Konvolut von Denner-Blättern mit dem Bildnis desselben jungen Mädchens. Die 41 Blätter sind ebenfalls alle in Rötel ausgeführt, gleichen sich im Format und tragen häufig neben der Datierung auch die zusätzliche Bezeichnung mit Buchstaben und Ziffern.(Anm. 4) Unter den Berliner Blättern befinden sich zwei(Anm. 5), die noch früher entstanden sind als die Hamburger Bildnisse, weshalb man annehmen muss, dass die Modellsitzungen Anfang November begonnen haben. Ein weiteres Blatt aus demselben Zusammenhang mit dem Bildnis des jungen Mädchens befindet sich in der Stiftung Rathjen in Vaduz.
Auffallend ist bei den Blättern ein manchmal unterschiedlicher Ausarbeitungsgrad. Im Mittelpunkt von Denners Interesse steht immer die Darstellung des Gesichts, doch legt er auf einigen Blättern wie dem vorliegenden und Inv.-Nr. 44000 durch verdichtete Schraffuren besonderen Wert auf die eindringlichere Erfassung des Gesichts und der Schattierung, während die Kleidung nur im Umriss angedeutet wird. Auf anderen Blättern wiederum – Inv.-Nr. 43969 und 43989 – erfasst Denner das Gesicht und die Kleidung in dieser verdichteten Art – ob er diese Bildnisse für besonders gelungen gehalten hat, muss einstweilen offen bleiben.

Peter Prange

1 Deutsches Barock und Rokoko, hrsg. von Georg Biermann, Bd. 1, Leipzig 1914, Taf. 210.
2 Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 406, vgl. Katalog der Alten Meister der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 51966, S. 49, Abb. Eine Miniatur mit dem Bildnis der Esther Winter aus dem Jahr 1738 befindet sich in Amsterdam, Rijksmuseum, Rijksprentenkabinet, Inv.-Nr. C 1616, vgl. C. J. de Bruijn Kops: Twee Amsterdamse portretminiaturen van Balthasar Denner (1685–1749), in: Bulletin van het Rijksmuseum 36, Nr. 3, 1988, S. 163–180.
3 Eine Einschränkung muss hinsichtlich der Lesart gemacht werden, denn die Datierung ließ sich nicht eindeutig entschlüsseln.
4 Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, KdZ 4421, 4422, 10208, 10209, 10213–10217, 10220–10251, vgl. Elfried Bock: Staatliche Museen zu Berlin: Die deutschen Meister. Beschreibendes Verzeichnis sämtlicher Zeichnungen, Berlin 1921, S. 146–148.
5 Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, KdZ 10208 und 10209, vgl. ebd., S. 146.

Details zu diesem Werk

Rötel 209mm x 167mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 43968 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 15.-18. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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