Marcantonio Raimondi, Stecher

Bildnis Raffael, um 1512 (?)

Bedenkt man die eminente Wertschätzung Raffaels zu Lebzeiten und nach seinem frühen Tod, mag es verwundern, dass im 16. Jahrhundert nur wenige gesicherte graphische Bildnisse des Künstlers nachweisbar sind. Dies lag vor allem daran, dass sich der Typus des Künstlerportraits erst langsam als spezielles Feld der Druckgraphik entwickelte. Dies sollte sich allerdings in späteren Jahrhunderten grundlegend ändern. Nun erschienen zahlreiche Bildnisse, die Raffael auf sehr unterschiedliche Weise zeigen: Eher jugendlich mit langem Haar und bartlos oder als erwachsenen Mann mit Vollbart; man sieht den Künstler frontal, im Dreiviertelprofil oder von der Seite, auffallend häufig ernst und interessanterweise zumeist weder malend noch zeichnend; fast immer ist Raffael allein, doch gibt es auch Bildnisse mit Freunden und Kollegen (vgl. Inv-Nr. 592, kb-1277-13, 13401, 70324, 2375, kb-1863-85-138-2, M-2004-18, 63449, kb-960-9, 60683, kb-334-1, kb-1915-642-38, 15058e4, 51588, 50014, 20490, kb-971-3, R-0042). (Anm. 1)
Innerhalb dieser facettenreichen und umfangreichen Gruppe ragt ein von Marcantonio Raimondi (Anm. 2) gestochenes Bildnis Raffaels heraus. (Anm. 3) Es handelt sich dabei nicht nur um die wohl erste graphische Darstellung des Künstlers überhaupt, sondern zudem um ein ikonographisch wegweisendes Werk. (Anm. 4)
Der relativ kleinformatige Kupferstich zeigt Raffael auf der unteren Stufe einer Treppe sitzend. (Anm. 5) Der Künstler trägt einen dünnen Bart und längeres, in der Mitte gescheiteltes Haar, auf dem ein Barett sitzt. Raffael ist in einen weiten Mantel gehüllt, der seine Hände vollständig verbirgt. Um ihn herum befinden sich eine Palette und Farbtöpfe sowie eine große, noch unbemalte Tafel. Raffaels intensiver, fast stechender Blick geht in die Ferne, er scheint in seiner eigenen Gedankenwelt zu sein und über etwas nachzudenken. Zieht man die Malutensilien in Betracht, kann es sich wohl nur um eine künstlerische Erfindung handeln. Die Darstellung zeigt demnach explizit keine handwerkliche Tätigkeit, sondern den Moment der kreativen Schöpfung, der sich ausschließlich im Kopf des Künstlers abspielt. (Anm. 6) Damit kommt diesem Bildnis programmatischer Charakter zu. Hier wird ein neuer Künstlertyp vorgestellt, der sich selbstbewusst als erfinderischer Geist präsentiert. (Anm. 7) Wie ein Philosoph oder Denker trägt der Künstler seine Vorstellungen (‚idea‘) in sich – hierfür benötigt er seine Hände nicht. (Anm. 8)
Das Bildnis Raffaels spielt auch auf den Künstler als Melancholiker an. (Anm. 9) Diesen Menschen wurde – nicht nur in der Renaissance – besondere kreative Kräfte zugeschrieben. Raffael selbst hatte in der Schule von Athen in seinem vermeintlichen Bildnis des Michelangelo (als Heraklit) einen solchen Typus unübersehbar vor Augen geführt. Und in direkter Auseinandersetzung mit diesem Bildnis von Raffaels großem Konkurrenten könnte Raimondis Darstellung entstanden sein – man beachte z. B. das übereinstimmende, ungewöhnliche Motiv der Treppenstufe. (Anm. 10) Interessanterweise wurde Raffael bereits von den Zeitgenossen als melancholisches Genie gesehen. (Anm. 11) Allerdings fehlt bei Raffael das wichtige Motiv des in die Hand gestützten Kopfes. Dies könnte aber als Hinweis zu verstehen sein, dass bei Raffael das Nachdenken über das allzu starke Grübeln und dadurch lähmende Element vorherrsche.
Diese von Anne Bloemacher ausführlich erörterte Deutung steht in Widerspruch zur bislang weitgehend vorherrschenden Meinung, dass das Bildnis den müden, erschöpften Künstler oder sogar den in Todesahnung befangenen Menschen zeige. (Anm. 12) Dies führte auch zu der in der Literatur vorherrschenden Datierung in die letzten Lebensjahre Raffaels. Aufgrund des Bezuges zur Schule von Athen wie auch in Anbetracht des zwar ernsten, aber doch noch jungen Gesichtes scheint die von Bloemacher vorgeschlagene frühere Datierung um 1512 durchaus vorstellbar. (Anm. 13)
Unabhängig davon gebührt der wahrscheinlich von Raffael selbst konzipierten Darstellung als dem wohl ersten ganzfigürlichen Porträt eines bildenden Künstlers in der italienischen Druckgraphik hoher entwicklungsgeschichtlicher Rang. Darüber hinaus prägte dieses Bildnis wesentlich spätere Vorstellungen von Raffael als einem aus seinem eigenen Geist heraus kreativ schaffenden Künstler. (Anm. 14)
David Klemm

IT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 369, Nr. 496; Passavant 1839b, S. 623; Delaborde 1888, S. 254–255, Nr. 233; Wagner 1969, S. 87–88; Ausst.-Kat. Berlin
2007, S. 72 (Beitrag Hanna Gründler); Bloemacher 2016, S. 170–176

1 Eine genaue Untersuchung druckgraphischer Bildnisse Raffaels steht aus. Wagner 1969 behandelt diese Gruppe eher am Rande.
2 Der Kupferstich ist ohne jegliche Bezeichnung. Die Zuordnung zum Werk Raimondis ist aus stilistischen Gründen zwingend und nie bezweifelt worden.
3 Das Bildnis wird traditionell als dasjenige Raffaels angesehen. Der genaue Ursprung ist nicht klar, doch sind sämtliche Handbücher, etwa von Bartsch, in der Zuordnung eindeutig. Hierzu beigetragen hat sicherlich eine gewisse physiognomische Ähnlichkeit mit den Bildnissen Raffaels auf dessen Wandmalereien bzw. Gemälden; vgl. Bloemacher 2016, S. 342, Anm. 120.
4 Die folgenden Ausführungen basieren wesentlich auf den weitreichenden Überlegungen von Anne Bloemacher; vgl. Bloemacher 2016, S. 170–176.
5 Raimondi gibt der Darstellung mit überwiegend senkrecht gesetzten Parallellinien Halt. Durch Kreuzlagen bzw. schräg geführte Schraffen werden Schatten angedeutet. Die Gesamtwirkung ist ruhig und konzentriert, womit die Ausführung der Intention der Darstellung entspricht.
6 Interessanterweise sind auf der Darstellung weder Pinsel noch Zeichenstift erkennbar.
7 Bloemacher 2016, S. 171.
8 Die Hände wurden in kunsttheoretischen Traktaten des 15. und 16. Jahrhunderts als wesentlich für die Realisierung der inneren Bilder eines Künstlers angesehen. Die Verdeckung der Hände – wie es das Bildnis Raffaels aber auch teilweise ein Kupferstich mit einem Bildnis des Michelangelo im Alter von dreiundzwanzig Jahren (Léon Davent zugeschrieben) zeigt – wurde im 16. Jahrhundert sehr differenziert betrachtet. Man bemängelte, dass ein zu intensives Nachdenken den Abschluss von Werken verhindere, andererseits wurde betont, dass die Ideenfindung der Ausführung eindeutig überlegen sei; vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2007, S. 72. In den oben genannten Graphiken deutet sich eine Vorstellung an, dass der Künstler auch ohne ausgeführtes Werk genial sein könne. Im späten 18. Jahrhundert warf Gotthold Ephraim Lessing in seiner Emilia Galotti die Frage auf, ob Raffael nicht auch dann das größte malerische Genie geworden wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände geboren worden wäre (Emilia, Galotti, 1. Akt, 4. Auftritt); vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2007, S. 72.
9 Horký 2002, S. 38.
10 Bloemacher 2016, S. 175–176.
11 So äußerte sich der ferraresische Gesandte Alfonso Paolucci 1519 in einem Brief; vgl. Bloemacher 2016, S. 176.
12 Einer alten Überlieferung zufolge soll Raffael das Bildnis abgelehnt und seine Vernichtung angeordnet haben; vgl. Delaborde 1888, S. 254. Auch wenn die Druckgraphik zu den seltenen Werken Raimondis gehört, so lässt sich kein dokumentarisch verlässlicher Beleg für diese Information nachweisen.
13 Man beachte z. B. die Darstellung des Bartes auf den anerkannten Raffael-Bildnissen. Dieser ist z. B. auf dem spät datierten Freundschaftsbild aus dem Louvre (Inv.-Nr. R-00042) deutlich dichter als auf dem vorliegenden Kupferstich. 14 Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 42

Details zu diesem Werk

Kupferstich 138mm x 105mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 362 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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