Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Marco Dente, da Ravenna, Erfinder, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Zeichner, Erfinder

Das sog. Rauchgefäß für Franz I. / "La Cassolette", um 1520/25

Innerhalb von Raffaels reichem Schaffen finden sich nur sehr wenige Entwürfe für das Kunsthandwerk. Über welches Potential der Künstler auch in diesem Bereich verfügte, belegt sein um 1518/20 entstandener Entwurf für ein Rauchgefäß nachdrücklich. Es zeigt zwei aufrecht stehende Frauen, die ohne sichtbare Anstrengung das Gefäß über ihren Köpfen halten. Der Entwurf ist voller Eleganz und Anmut, was sich in den fließenden Bewegungen der Frauenkörper wie auch der dargestellten Salamander ausdrückt. Unübersehbar weist das Werk sinnliche Elemente auf, erkennbar etwa in der subtilen Betonung der weiblichen Körperformen oder in der zarten Berührung der Hände. (Anm. 1) Hinsichtlich der vorzüglichen Formgebung und der erotischen Komponente erinnert der Entwurf unverkennbar an Benvenuto Cellinis Salzfass, das allerdings etwa zwei Jahrzehnte später entstand. Raffaels Beschäftigung mit einem Rauchgefäß steht in Zusammenhang mit einem womöglich von Papst Leo X. und Herzog Lorenzo de’ Medici für Franz I. von Frankreich geplanten Geschenk – so sind der Salamander und die Lilien eindeutige Symbole des französischen Herrschers. Auch wenn das Gefäß mit großer Wahrscheinlichkeit niemals ausgeführt wurde, so ist die faszinierende Idee dieser kunsthandwerklichen Arbeit durch einen nach einer verlorenen Zeichnung Raffaels entstandenen Kupferstich Marco Dentes gut dokumentiert. (Anm. 2) Bereits um 1520/25 wiederholte Marcantonio Raimondi diese Vorlage mit Abänderungen, wobei er vor allem die Plastizität des dreidimensionalen Gefäßes stärker betonte. (Anm. 3) Die weitreichende Wirkung des Rauchgefässes zeigt sich auch daran, dass sich Parmigianino von den eleganten Figuren für seine Trägerinnen im Gewölbe von Santa Maria della Steccata in Parma anregen ließ. (Anm. 4) Und sogar Paul Cézanne fertigte eine Kopie nach Raimondis Stich an. (Anm. 5) Die Vorstellung, dass Raffael auch im Gebiet des Kunsthandwerks als Entwerfer erfolgreich tätig war, führte 1803 in Paris zu einer interessanten Publikation. In dieser wurden Radierungen in Punktiermanier von Charles Pierre Joseph Normand und Jean-Baptiste Lucien nach in Rom 1778 entstandenen Zeichnungen von Louis Prieur veröffentlicht. Die Radierungen zeigen angebliche Entwürfe Michelangelos und Raffaels für zwei in Konkurrenz von den aufeinanderfolgenden Päpsten Julius II. und Leo X. um 1518 in Auftrag gegebene Kerzenleuchter, die von Benvenuto Cellini gearbeitet werden sollten. (Anm. 6) Im Hamburger Kupferstichkabinett findet sich eine italienische, 1823 in Mailand von dem Architekten Giacomo Moraglia herausgegebene neue Ausgabe mit Kupferstichen von Pietro Narducci (Abb. S. 38) (Anm. 7) . Georg Karl Nagler erwähnt 1845 – dabei den Ausführungen des Raffael-Forschers Passavant folgend (Anm.8) – in seinem Künstler-Lexicon die Ausgabe von 1803 mit folgenden, die Echtheit der hier überlieferten Entwürfe wohl zu Recht in Frage stellendem Kommentar: „Die Zeichnung zu einem Candelaber […] soll er [Raffael] um 1518 im [sic] Concurrenz mit Michel Angelo gefertigt haben, da er für die St. Peterskirche in Rom zwei große, reich verzierte Leuchter gemacht werden sollten. Solche Leuchter sind allerdings in jener Kirche vorhanden, sie wurden aber erst 1531 nach Michel Angelo’s Zeichnungen von Antonio Gentili in vergoldetem Silber ausgeführt und sind ein Geschenk des Cardinals Alessandro Farnese. Aus diesem Angaben weiss man, was von folgendem Werke, welches die beiden Leuchter in Abbildung gibt, zu halten hat: Deux candelabres […], Paris 1803.“(Anm. 9) Es scheint, dass sich hier der ewige Wettstreit (Paragone) zwischen den Kontrahenten Michelangelo und Raffael erneut Bahn gebrochen hat und in Paris versucht wurde, Raffael auch als Entwerfer für Kunsthandwerk erneut in Stellung zu bringen. Dies wurde 1823 in Mailand im Zuge des wachsenden Interesses an den Werken des Urbinaten gern aufgegriffen.
David Klemm / Andreas Stolzenburg

LIT (Auswahl): Bartsch 14 (1813), S. 363, Nr. 494; Ausst.-Kat. Florenz 1984, S. 788, Nr. 96; Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 223, Nr. 153 (Beitrag Achim Gnann); Höper 2001, S. 220–221, Nr. A 95 (mit älterer Lit.); Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 70, Nr. 13

1 Ob auf der nicht sichtbaren Rückseite des Gefäßes eines dritte Figur zu denken ist, muss offen bleiben.
2 Bartsch 14 (1813), S. 364, Nr. 490.
3 Eine genaue Analyse der Abfolge der Stiche von Dente und Raimondi findet sich im Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 223; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 70.
4 Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 70.
5 Höper 2001, S. 221, bei Nr. A 95.
6 Deux candélabres composés par Raphael Sanzio d’Urbin et Michel-Ange Buonaroti, d’après le concours ouvert entr’eux, par les Papes Jules II et Léon X, environ l’an 1518 Dediér au Citoyen Chaptal, Ministre de l’Interieur, membre de l’Institut nationale de France […] / Two candelabras, one of which was composed by Raphael Sanzio d’Urbino, the other by Michel Angelo Buonaroti, according to the orders given to both, by the Popes Julius the II, and Leo the X, about the year 1518 […] , Paris 1803 (Umschlag mit Titel und einer ausführlichen Erklärung der beigefügten vier Kupferstiche); Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek; https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/epnresolver?id=1609559401 (letzter Aufruf: 25. 2. 2021).
7 Disegno di due Candelabri composti uno da Raffaele Sanzio Urbinate; e l’altro da Michel Agnolo Buonaroti Fiorentino per concorso loro proposto dal Pontefice Giulio II, e dal suo sucessore Leone X verso l’anno 1518, […]. Quest’opera pubblicata per la cura dell’Architetto Giacomo Moraglia […], Mailand 1823, Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 2021-37-1 bis 5 (erworben 2021 von Gilibert Libreria Antiquaria, Turin, mit Mitteln des Fördervereins „DieMeisterzeichnung. Freunde des Hamburger Kupferstichkabinetts e. V.“). Auf dem Titel ist zu lesen: „La presente incisione è stata fedelmente ritratta a semplici contorni da un’edizione di Parigi del 1803 fatta sopra disegni ricavati dagli originali in rilievo per opera di esperto disegnatore nell’anno 1778, e viene qui con tanto maggiore fiducia riprodotta, in quanto che essa offre agli Artisti d’ogni genere una sorgente di ricchezze per lo studio delle Belle Art.“ Abgebildet ist Inv.-Nr. 2021-37-2.
8 Passavant 1839b, S. 440–441 bezieht sich bei den Ausführungen auch auf die Pariser Ausgabe von 1803 und interpretiert die Stiche ebenfalls als eine Falschinformation.
9 Nagler 14 (1845), S. 426

Details zu diesem Werk

Kupferstich; aufgezogen und fest aufgelegt 307mm x 168mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 360 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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