Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

Der Fahnenträger, um 1515

Raffaels künstlerische Entwicklung ist maßgeblich von der Auseinandersetzung mit Leonardo da Vinci und Michelangelo, den beiden anderen Hauptmeistern der italienischen Renaissance, geprägt. Immer wieder kann man beobachten, wie sich der jüngste dieser drei herausragenden Künstler an den beiden älteren schult, misst und sie dann auch zu übertreffen versucht. Ein Musterbeispiel dafür stellt der Fahnenträger dar, der ohne die Auseinandersetzung mit Michelangelos Œuvre gar nicht zu denken ist. Raffaels Komposition zeigt einen bis auf einen Helm unbekleideten Mann, der gerade bei heftigem Wind versucht, eine riesige Fahne aufrecht zu halten. Die Naturgewalt ist so stark, dass der Mann all seine Kräfte aktivieren muss. Dadurch treten seine ausgeprägten Rücken-, Bein- und Armmuskeln deutlich hervor. Die Haltung des Fahnenträgers wirkt fast etwas gestellt und erinnert an die Posen von Bodybuildern. Hierzu passt, dass der eigentliche Anlass der Szene unklar bleibt. Der Fahnenträger befindet sich in einer weiten Landschaft, in dessen Hintergrund z. T. zerfallene Gebäude erkennbar sind. Direkt zu seinen Füßen ruht ein Löwe, der den Aktivitäten keinerlei Aufmerksamkeit schenkt. Landschaft und Tier wirken versatzstückhaft, dennoch geben sie der Komposition eine geheimnisvolle Note. Unverkennbar ist, dass der Betrachter den Hauptteil seiner Aufmerksamkeit dem Fahnenträger widmen soll. Raffael feiert hier die Schönheit eines perfekt modellierten Männerkörpers und zeigt damit, dass er keineswegs nur Frauenakte meisterhaft darzustellen vermag. Mit diesen Charakteristika zählt der Fahnenträger zu einer Gruppe von Kompositionen, mit denen Raffael seine Idealvorstellungen von menschlichen Körpern vor Augen führte. (Anm. 1) Diese sollten möglicherweise als Modelle für seine Schüler oder allgemein für angehende Künstler dienen. Auch wenn keine genau entsprechende Zeichnung Raffaels erhalten blieb, wird ihm die Komposition doch einhellig zugeschrieben. Einen frühen Gedankenprozess für den Fahnenträger zeigt wohl ein Studienblatt in Oxford, wobei dort die Männerfigur stärker bekleidet und offenbar in einen Kampf verwickelt ist. (Anm. 2) Interessanterweise haben sowohl Marcantonio Raimondi als auch Agostino Veneziano weitgehend übereinstimmende Kupferstiche des Fahnenträgers geschaffen. (Anm. 3) Vasari erwähnt nur Raimondis Stich explizit, doch lassen sich im Umkreis von dessen Werkstatt häufiger kurz nacheinander entstandene Wiederholungen nachweisen. Die Frage, wem die zeitliche Priorität gebührt, wird seit langem intensiv diskutiert und ist schwer zu entscheiden. (Anm. 4) Es gibt einige wenige Unterschiede, etwa in der Anzahl der Kieselsteine hinter der rechten Ferse des Mannes. Stärkere Differenzen zeigen die Hintergründe, bei denen Raimondi ein besseres Verständnis für Architektur zeigt. Dies gilt auch für die Anlage der Muskeln, die bei Veneziano bisweilen allzu unnatürlich hervorquellen. Überhaupt wirkt Raimondis Stich etwas kraftvoller und prägnanter. Aufgrund der stilistischen Befunde dürfte er um 1516 entstanden sein. (Anm. 5) Unverkennbar veranschaulicht die Komposition Raffaels eine direkte Auseinandersetzung mit Michelangelo. So ist der Rückenakt von dessen um 1505 entstandenem Karton der Schlacht von Cascina inspiriert. Raffael schafft gleichsam eine Symbiose der zahlreichen Soldaten Michelangelos in einer Idealfigur, die durch die Herausstellung als Einzelperson monumentalisiert wird. (Anm. 6) Raffaels beeindruckende Komposition machte schnell großen Eindruck. Kein geringerer als Tizian ließ sich vom Fahnenträger für zwei Figuren auf seinem 1515/16 entstandenen großformatigen Holzschnitt Triumph Christi – den Hl. Christophorus und den guten Schächer – anregen. (Anm. 7)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 357, Nr. 481; Gramaccini/Meier 2009,
S. 158, Nr. 72 (Beitrag Hans Jakob Meier)

1 Gramaccini/Meier 2009, S. 158.
2 Oxford, Ashmolean Museum, P II, 559; Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 475, S. 602, Nr. 475. Die dort unten in der Mitte befindliche Figur weist eine ähnliche (seitenverkehrte) Körperhaltung auf, ist allerdings stärker bekleidet und offenbar in einen Kampf verwickelt.
3 Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. 1917-306.
4 Vgl. Gramaccini/Meier 2009, S. 158. Die von Spike vorgebrachte Ansicht, dass das Gehöft im Hintergrund von Agostino Veneziano schon 1515 verwendet wurde und ihm daher die Priorität gebührt ist nicht zwingend, nicht zuletzt da, bei allen Ähnlichkeiten, dieses Gebäude nicht kopiert, sondern allenfalls variiert wurde; vgl. Gramaccini/Meier 2009, S. 158.
5 Ebd.; Bloemacher 2016, S. 401.
6 Hans Jakob Meier beschrieb diese Akzentuierung treffend als „Genuss am Pathos“ um seiner selbst willen; vgl. Gramaccini/Meier 2009, S. 158.
7 Vgl. Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981, S. 22–23; Gramaccini/Meier 2009, S. 158

Details zu diesem Werk

Kupferstich 246mm x 177mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 356 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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