Philipp Otto Runge

Liliengewächs (Fragment; vgl. Inv.-Nr. 34306-34308), 1809

Die vier Fragmente einer Lilienpflanze auf ölgetränktem Büttenpapier (vgl. Inv. Nr. 34309) unterscheiden sich von den anderen Transparentzeichnungen in ihrer Technik. Während Runge auf den für die Vorbereitung des „Großen Morgens“ verwendeten Zeichnungen eine Pause mit dem Bleistift anfertigte, die danach zur Übertragung durchgegriffelt wurde (vgl. Inv. Nr. 34309-34313), hat Runge die vier Fragmente einer Amaryllis als Umrisszeichnung mit der Feder angelegt. Eines der Fragmente (Inv. Nr. 34307) zeigt entlang eines Teils der Umrisszeichnung eine regelmäßige Punktierung, wie sie als Übertragungsverfahren für den „Kleinen Morgen“ verwendet wurde.
Weder Waetzoldt noch Traeger war es möglich, die vier Fragmente mit erhaltenen Vorlagen zum Rahmenbild des „Großen Morgens“ zu verbinden (Anm. 1). Traeger hat deshalb vermutet, dass es sich „um die Reste einer Übertragungsschablone zu einer verworfenen Fassung [handelt], deren Karton verloren ist.“ (Anm. 2) Stolzenburg ist es kürzlich gelungen, die vier Fragmente in einer Photomontage zu einer Amaryllisblüte zusammenzufügen (Anm. 3), doch auch die Rekonstruktion der Blüte lässt sich nicht mit erhaltenen Entwürfen zum Rahmenbild verbinden. Am nächsten steht die Blüte in ihrer naturalistischen Auffassung jener „Amaryllis formosissima“, die Runge laut eigenem Bekunden bis Ende März 1808 gemalt hatte, als er sich bei Gustav Brückner für von ihm erbetene Pflanzenstudien bedankte und hinzufügte: „Die Amaryllis formosissima habe ich schon nach der Natur gemahlt.“ (Anm. 4) Sie ist identisch mit jener von Daniel erwähnten „Amaryllis formosissima mit der Zwiebel“ (Anm. 5), die sich heute in der Hamburger Kunsthalle befindet (Anm. 6). Im Vergleich zu den Lilienblüten in den Rahmenkompositionen der Morgen-Gemälde ist die Amaryllis auf dem Gemälde weniger stilisiert, weil sie dem Naturvorbild insgesamt nähersteht; dieser Auffassung entspricht auch eher die rekonstruierte Amaryllisblüte auf dem Ölpapier, was auf eine frühere Entstehung deuten könnte. Dann würde die Blüte nicht mit der Rahmenkomposition für den „Großen Morgen“ in Zusammenhang stehen, sondern unabhängig von dieser entstanden sein. Ein Indiz für eine solche Vermutung ist die Punktierung von Teilen eines Fragmentes (Inv. Nr. 34307), die als Übertragungsverfahren für den „Kleinen Morgen“ verwendet wurde.
In seiner Auflistung der Blumenentwürfe erwähnt Daniel auch „mehrere Oelmalereyen, 1808 und 1809, von Blumen, zum Behuf von Stickereyen auf Stuhlpolster, für seine Nichte Wilhelmine Helwig […]. Der Herausgeber erinnert sich unter andern noch einer derselben, worauf mit sehr lebhaften Tönen eine weiße Calla Aethiopika mit einer Amaryllis vereinigt waren.“ (Anm. 7) Runge hatte sich in den Jahren zwischen 1807 und 1809 wieder verstärkt dem Thema Pflanzenstudien gewidmet und zu diesem Zweck seinen Freund Gustav Brückner gebeten, ihm Pflanzenstudien, darunter auch eine Amaryllis, zuzusenden. Runge hatte betont, dass es ihm „nun für diese auf die botanischen Theile, bey einer ausführlichen Behandlung, und vorzüglich wenn man genöthigt ist, die Form zu extravagiren, wesentlich ankommt, und besonders den Charakter der Geschlechtstheile herauszuheben, so würden mir deine Bemühungen sehr zu statten kommen.“ (Anm. 8) Tatsächlich entstanden in der Folge eine Reihe von Lilienstudien (Anm. 9), in denen Runge ihrem natürlichen, momentanen Zustand, aber auch allgemeinen Gesetzmäßigkeiten nachspürt; auch die Pause auf Ölpapier dürfte aufgrund ihrer Naturnähe in diesen Kontext botanischer Studien gehören. Ob sie Runge als Vorlage für den „Großen Morgen“ oder andere in diesem Kontext geplante Ölstudien bzw. Gemälde – etwa als Vorlage für Stickereien - verwenden wollte, lässt sich nicht entscheiden; in dem Punktierverfahren, das zur Übertragung dienen sollte, steht sie dem „Kleinen Morgen“ näher, was auf eine Entstehung nach der ersten Fassung des Morgens schließen lässt.

Peter Prange

1 Waetzoldt 1951, S. 159.
2 Traeger 1975, S. 471, Nr. 506.
3 Klemm/Stolzenburg 2010, S. 16, Abb. 3.
4 Brief vom 23. März 1808 an Brückner, vgl. HS I, S. 239.
5 HS I, S. 237.
6 Amaryllis formosissima, Öl/Lw, 56,4 x 29,8 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 2032, vgl. Traeger 1975, S. 427-428, Nr. 396, Abb.
7 Vgl. HS I, S. 237.
8 Brief vom 28. Dezember 1807 an Brückner, vgl. HS I, S. 239.
9 Lilienblüte und Knospe, Bleistift, 298 x 235 mm, Privatbesitz, vgl. Traeger 1975, S. 428, Nr. 397, Abb; Lilienstengel mit fünf Blüten und einer Knospe, Feder in Schwarz, 295 x 240 mm, Washington, National Gallery of Art, Inv. Nr. 2007.111.31, vgl. Traeger 1975, S. 428-429, Nr. 398, Abb.; Feuerlilienstengel mit Blüten und Knospen, Bleistift, Feder in Schwarz, Privatbesitz, vgl. Traeger 1975, S. 429, Nr. 399, Abb.

Details zu diesem Werk

Feder in Schwarz auf gelbbraunem Ölpapier; fest montiert 178mm x 203mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34305 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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