Philipp Otto Runge

Konstruierte Kornblume, 1808/09

Unter den Blumenstudien führt Daniel auch die Zeichnung einer Kornblume an: „Mit der Feder und dem Bleystift, theils äußerst genau, theils flüchtif aufgezeichnet, sind: eine Kornblume (zum Behuf des Kranzes im Tage) von oben hineingesehen 2 bis 3 Zoll im Durchmesser; desgleichen im Profil.“ (Anm. 1)
Das von Daniel erwähnte Blatt ist mit Inv. Nr. 34274 identisch, das Böttcher irrtümlich als eine Pflanzenstudie für die Rahmenleiste des „Morgens“ ansah (Anm. 2). Von sechs konzentrischen Kreislinien ausgehend hat Runge ihnen die Aufsicht einer Kornblume eingeschrieben, sie jedoch nicht in das geometrische System eingezwängt (Anm. 3). Ein Großteil der Blütenblätter ist zwar der äußeren Kreislinie eingeschrieben, doch einzelne ragen auch darüber hinaus und durchbrechen die strenge Geometrisierung, die das Blatt auf den ersten Blick suggeriert. Dies wird auch in der Seitenansicht der Kornblume deutlich, die Runge aus der Aufsicht ableitet; deren Stengel wird nicht vertikal sondern leicht schräg nach links ausgerichtet. Die Geometrisierung dient ihm lediglich als Annäherungsform und nicht als Schablone, der er ihre freie Entfaltung unterwarf; vielmehr verstand Runge die Pflanze als „organisches Ganzes“ (Anm. 4), das er im Sinne des „Charakteristischen“ einer Abstrahierung unterzog.
In ihrer regelmäßigen Struktur erinnert die Kornblume an die Entwicklung gotischer Maßwerke, insbesondere der Fensterrose. Runges Untersuchungen zur Tektonik und Konstruktion der Pflanzen hatten schon die Zeitgenossen mit der Architektur in Verbindung gebracht; Daniel berichtet, dass man allgemein in seinen Werken „eine besonders architektonische Richtung finden“ wollte (Anm. 5), und Karl Friedrich von Rumohr schrieb an Runge: „Mich freut es, daß du die Meßkunst auf das Studium des Vegetabilen anwendest und die Verknüpfung aller Kunst mit und in der Architektur vor Augen hast.“ (Anm. 6) Mit welcher Akribie Runge den „Bauplänen“ der Pflanzen im Sinne einer Grundordnung nachspürte, belegt auch, dass er von seinem Freund Gustav Brückner neben anderen botanischen Zeichnungen die Studie einer blauen Kornblume erbat, „da die Blumen, welche ich in meinen Bildern gebrauche, alle von keiner geringen Bedeutung sind.“ (Anm. 7)

Peter Prange

1 Vgl. HS I, S. 237.
2 Böttcher 1937, S. 177.
3 Vgl. Jensen 1977, S. 122.
4 Brief vom 22. Dezember 1807 an seinen Bruder Gustav, vgl. HS I, S. 78.
5 Vgl. HS II, S. 471.
6 Brief von Ende Oktober 1808 an Runge, vgl. HS II, S. 369.
7 Brief vom 28. Dezember 1807 an Gustav Brückner, vgl. HS I, S. 239.

Details zu diesem Werk

Feder in Schwarz über Bleistift 250mm x 190mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34274 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford, CC-BY-NC-SA 4.0

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