Philipp Otto Runge

Die Freuden des Weins (Studie zur Rahmenkomposition), 1803

Am 12. September 1802 berichtet Runge Perthes, dass er nach einer Erkrankung nun wieder arbeite und „auch wieder ein sehr löbliches Kunstwerk entworfen“ (Anm. 1) habe. Im gleichen Brief an Perthes betonte Runge seinen „besonderen Hang zur Arabeske“ und kündigte an, dass er eine Arabeske zur Probe schicken werde, die er „dieser Tage gemacht“ (Anm. 2) habe. Am 24. Oktober berichtete Runge dann von einem Besuch einer Künstlerin aus Berlin in der Dresdner Galerie, die „eine sehr schöne Weintraube“ stickte und Runge bat, da sie den Rahmen zur Nachtigall gesehen hatte, „ihr doch auch einen zu zeichnen. Als ich krank war, kam ich dazu; es wurde mir aber soviel, daß ich das Beste davon (um einmal ein Bild hinein zu mahlen) für mich selbst behalten habe.“ (Anm. 3) Isermeyer hat aus diesen Nachrichten geschlossen, dass es sich bei der erwähnten Arabeske um den Entwurf zu den „Freuden des Weines“ handeln muss (Anm. 4), zu dem Runge mindestens zwei Rahmenkompositionen anfertigte, von denen er eine der Berlinerin Künstlerin überließ (Anm. 5).
Im selben Brief vom 24. Oktober gibt Runge eine Beschreibung des Entwurfs, die mit Inv. Nr. 34270 weitgehend übereinstimmt: „Unten ist ein Weinbecher, und von da aus winden sich Efeuranken, deren Blätter sich in den Kelch getaucht und berauscht haben, um eine aufgeschlossene Blume; diese macht sich aber von ihnen los und aus ihrem Kelche saugen zwey Schmetterlinge die Freude. Diese Freude sprießt höher hinauf als neue zartere Blume, auf deren Kelche zwey Kinder sich umschlingend auf den Zehen stehen. Eine solche Gruppe ist auf jeder Seite in den oberen Ecken des Rahmens. Die Efeuranke aber hat sich hinter den Blumen weg zu der oberen Mitte geschlungen, zu einem Satyr und einer Bacchantin, die sich dort befinden, auf einem Fußgestell, das an jeder Ecke einen Tigerkopf hat, mit einem Ringe im Maul, durch welchen die Ranke hinauf zu den beiden Figuren gegangen ist, die sie mit den Thyrsusstäben, welche diese auf den Schultern halten, zusammenbindet. Die beiden Figuren stehen mit dem Rücken gegen einander, um sich von einander zu reißen, nachdem die Wuth des Weines sie vereinigt hatte. Dieses ist so die völlige Trunkenheit, also die Mitte des Weines; die Freude war die Mäßigung oder der halbe Genuß (in den Schmetterlingen, und den beiden Genien).“ (Anm. 6) Runges sonst sehr genaue Beschreibung erwähnt nicht die Schlangenhenkel; diese führt er erst in einem Brief vom 28. Dezember auf, in dem er eine ergänzende Beschreibung des Rahmenentwurfs gab: „Unten in dem Weinbecher berauscht sich der Efeu; ja die Schlangen als Henkel des Bechers saugen schon an demselben. Der Rausch des Efeu’s schlingt sich um die Blume, aus welcher der Schmetterling die Freude saugt; das ist der halbe Wein. Wie der Rausch aber fortgeht, kommt die Wuth des Weines, das ist der Tiger, durch welche die Wuth Bacchantin und Satyr verbunden werden; das ist der volle Wein, aber die menschliche Ueberfüllung.“ (Anm. 7) Man wird aus dieser Differenz in der Beschreibung allerdings nicht auf einen weiteren Entwurf schließen können, sondern muss davon ausgehen, dass sich beide, einander ergänzende Beschreibungen auf Inv. Nr. 34270 beziehen.
Der Rahmen entstand Anfang September während seiner Krankheit; Weihnachten sandte ihn Runge an Caroline Perthes mit der Bitte, ihm den Entwurf zurückzusenden, weil er nichts weiter davon habe und deshalb brauche (Anm. 8). Tatsächlich plante Runge, den Rahmen mit dem Mittelbild (vgl. Inv. Nr. 34269) als Wandverzierung mit den „Freuden der Jagd“ als Pendent zu verwenden; dazu kam es nicht (Anm. 9), doch die Idee, durch die Verbindung von Arabesken und Architektur neue Räume zu schaffen, sollte Runges Werk bis zu seinem Tod bestimmen.
Die Verwandtschaft zum Rahmen der „Lehrstunde der Nachtigall“ ist offensichtlich, doch offenbart sich in dem streng symmetrischen Aufbau der stilisierten Pflanzen mit der Puttenbekrönung auch die Tradition der Groteske bzw. der klassizistischen Dekoration. In der Beschränkung auf die Linie der Feder und der flächenhaften Lavierung des Pinsels erreicht Runge jene silhouettenartige Wirkung, die das Blatt mit seinen Scherenschnitten verbindet. Die flächige Lavierung kontrastiert mit dem freien Papiergrund, aus dem ex negativo die figürlichen und ornamentalen Details gebildet sind. Durch die Akzentuierung mit der Feder und die Schattierung hebt er sich reliefartig vom Grund.
Ob sich Runge für seine Rahmenkomposition auf die Ikonographie der Freimaurer bezog, muss offen bleiben. Zur Deutung der Schlangenhenkel als freimauerisches Motiv verweist Demisch auf den Vergleich mit einem Freimaurerschurz der Zeit um 1800, der auf dem „zwischen zwei Akazien als freimaurerischen Sinnbildern der Unsterblichkeit auf einem gestuften Podest einen Kelch [zeigt], der von zwei s-förmig aufgebäumten Schlangen flankiert wird.“ (Anm. 10) Auf dem Schurz liegen sich die beiden Schlangenköpfe auf Höhe des Kelchrandes gegenüber, bei Runge dagegen fungieren „die Schlangen als Henkel des Bechers“ (Anm. 11) und saugen daran (Anm. 12).
Zum Motiv von Satyr und Bacchantin vgl. auch die formal ähnliche Lösung auf Inv. Nr. 34271.

Peter Prange

1 Brief vom 12. September 1802 an Perthes, vgl. HS II, S. 150.
2 Vgl. HS II, S. 152.
3 Brief vom 24. Oktober 1802 an Daniel, vgl. HS I, S. 224.
4 Isermeyer 1940, S. 86.
5 Vgl. Traeger 1975, S. 336, Nr. 249.
6 Brief vom 24. Oktober 1802 an Daniel, vgl. HS I, S. 224-225.
7 Brief vom 28. Dezember 1802, vgl. HS I, S. 225.
8 Brief an Caroline Perthes vom 13. Dezember 1802, vgl. Philipp Otto Runge. Briefe in der Urfassung, hrsg. von Karl Friedrich Degner, Berlin 1940, S. 75.
9 Vgl. HS I, S. 226, und S. 350.
10 Vgl. Demisch 1996, S. 185.
11 HS I, S. 225.
12 Die Annahme Demischs 1996, S. 185, aus der Darstellung gehe nicht hervor, dass die Schlangen als Henkel fungieren, ist unzutreffend.

Details zu diesem Werk

Feder und Pinsel in Grau über Bleistift 690mm x 525mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34270 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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