Philipp Otto Runge

Comhals Tod und Fingals Geburt, um 1804

Daniel erwähnt in seiner Auflistung der Entwürfe zu Ossian auch eine „historische Komposition: Comhal‘s Tod und Fingal‘s Geburt“, die 1804 in Hamburg entstanden ist (Anm. 1). Die später wieder verworfene Zeichnung war nach Daniel zusammen mit einer zweiten als Einleitungsblatt bestimmt: “Sie bezieht sich auf die Angabe Macpherson’s von einer Sage, daß Fingal grade an dem Tage geboren sey, als sein Vater Combal, in einer Fehde mit dem Geschlechte (Clan) Morni’s begriffen, fiel [… ]. In der Zeichnung liegt der alte Comhal zur Erde auf seinen Schild niedergesunken und wird von einem vor ihm stehenden Jünglinge mit dem Speer erstochen; ein andrer zeigt zu der Burg Selma nach hinten hinauf, die halb von Gebüsch verdeckt ist. Die Figuren sind gänzlich nackend. Rechts zwey behelmte Greise mit Speeren, auf ungeheure Schilde gestützt; links Fliehende. In einem Bilde am bemoosten Giebel von Selma sieht man das Kind, schon den Speer haltend, aus dem Schooße der vor ihm hingestreckten Mutter aufspringend. Hinter Selma die Sonne, über derselben ein Stern” (Anm. 2). Runge selbst erklärte die Szene so: „Combal’s Kraft ward überwunden, da wurde Fingal geboren, der junge Strahl von Selma. Er ist der Sonne gleich, heiß und ermüdend im Streit, warm und milde nach dem dunkeln und trüben Kampf. – Bild: Combal sinkt; die Sonne geht auf über Selma, mit ihr wird Fingal geboren.“ (Anm. 3) Die zweite geplante Einleitungsszene „geht auf die Erzählung Starno’s in Cathloda, dritter Gesang“ zurück und sollte von der Entstehung des Hasses zwischen Starno und Fingal handeln (Anm. 4), doch dürfte sie über eine erste, dichterische Konzeption nicht hinausgelangt sein (Anm. 5).
In der Folge der Ossian-Blätter ist nur Inv. Nr. 34222 von Daniel mit der eindeutigen Datierung „1804“ versehen worden. Ein Knabenakt mit erhobenem linken Arm in Frankfurt (Anm. 6) könnte ebenfalls noch 1804 entstanden sein, wofür der ähnliche, christkindartige Typus sprechen würde, doch ist der Zusammenhang mit der Geburt Fingals auf Inv. Nr. 34222 nicht eindeutig zu belegen.
Laut Daniel wurde das Projekt „gegen Ende des Jahres 1804“ ins Auge gefasst, als sich Friedrich Perthes an Runge mit dem Wunsch wandte, Illustrationen zu der von ihm geplanten Herausgabe der Gedichte Ossians in der Übersetzung Graf Friedrich Leopolds von Stolberg zu liefern: „Perthes, als Verleger einiger, von dem Grafen Fr. Leopold von Stolberg übersetzten Schauspiele des Aeschylus, hatte diese Ausgabe mit den Flaxman’schen, meisterhaft von Gerdt Hardorf verkleinerten Skizzen geschmückt, und wünschte sich von Runge’s Hand nun auch dergleichen zu der Stolberg’schen Uebertragung der Gedichte Ossian’s, […].“(Anm. 7) Die dargestellte Szene bezieht sich auf eine kleine Anmerkung Macphersons, die am Ende des zweiten Bandes der Stolberg-Übersetzung zu finden ist. Strasser-Klotz hat darauf hingewiesen, dass die Konzeption des Blattes eine gründliche Lektüre und Auseinandersetzung mit der umfangreichen Dichtung verlangte, die laut Runge Anfang 1805 noch nicht stattgefunden hatte. Am 15. Januar 1805 schien ihm der Stoff „noch das meiste zu eröffnen“ (Anm. 8), und auch im Februar war Runge offensichtlich noch mit der Lektüre beschäftigt, während erst im März von ersten Zeichnungen die Rede ist. Auch ist unklar, wann Runge überhaupt Einblick in Stolbergs Übersetzung hat nehmen können. Stolberg hatte Anfang Oktober 1804 in einem Brief an seinen Bruder Christian die Fertigstellung der Übersetzung im Vormonat mitgeteilt, und hoffte, Perthes bis Weihnachten das ganze Manuskript schicken zu können (Anm. 9). Ende Dezember machte er die gleiche Mitteilung in der Hoffnung, zum Frühjahr ein gedrucktes Exemplar verschicken zu können (Anm. 10). Runge stand wohl Ende 1804 das Manuskript zur Verfügung, das er später in einem Brief an Tieck erwähnt (Anm. 11), weshalb Inv. Nr. 34222 noch Ende 1804 entstanden sein könnte. In seiner Korrespondenz erwähnt Runge die später verworfene Zeichnung nicht, doch wird sie von Daniel nach den drei Charakterbildern von Fingal, Oscar und Ossian (vgl. Inv. Nr. 34215-34217) eigens aufgeführt (Anm. 12). Zeichnerisch entspricht das Blatt den Charakterbildern, die Runge im März 1805 zur Ansicht an Stolberg gesandt hatte (vgl. unten); ihre stilistische Übereinstimmung könnte auch für Inv. Nr. 34222 für eine Entstehung erst nach der Jahreswende bis März 1805 sprechen. Für eine solche Annahme spricht auch Runges Korrespondenz von Anfang 1805, die ihn mit der Lektüre der Dichtung beschäftigt zeigt. Trifft die Vermutung zu, ist Daniel bei der Datierung ein Irrtum unterlaufen.
Perthes wurde möglicherweise durch die Zeichnungen zu den „Heymonskindern“ (vgl. Inv. Nr. 34150 und 34151) angeregt, Runge um Illustrationen zum Ossian zu bitten (Anm. 13). Sie waren für Runge eine Gelegenheit, ihn in unmittelbare „Berührung mit dem Publikum, auch des Erwerbes wegen“ (Anm. 14), bringen zu können. Runge nahm die Arbeit sofort auf und hatte „gleich anfangs Überschlagen […], daß es wohl hundert Radirungen geben könne, die zwar nicht alle in die Ausgabe des Buches kommen dürften, aber ihm Anlaß zu einer unabhängigen Bearbeitung des Ganzen bieten könnten.“ (Anm. 15) Er hatte sich fußend auf Stolbergs Übersetzung eine ausführliche Zusammenfassung aller Gedichte angefertigt (Anm. 16), und war am 29. März 1805 von dem Stoff „ganz wunderbar ergriffen“ und sich mit Hardorff „über die Ausführung für das Publicum“ einig geworden, der die Anfertigung der Radierungen übernehmen würde (Anm. 17).
Schon vorher, vor dem 22. März 1805, hatte Runge drei von ihm sogenannte „Charakterbilder“ der wichtigsten handelnden Personen an Stolberg übersandt (Anm. 18), die er den jeweiligen Geschichten voranstellen wollte. Es handelte sich dabei um den blinden Barden Ossian (vgl. Inv. Nr. 34217), um dessen Vater Fingal, dem Helden des Epos (vgl. Inv. Nr. 34215), und um Ossians Sohn Oscar, Fingals Enkel (vgl. Inv. Nr. 34219). Zusammen mit diesen drei Zeichnungen übersandte Runge ein ausführliches Konzept, das Daniel überliefert hat (Anm. 19), in dem Runge ein zyklisches Verständnis der Geschichte entwickelte, deren einzelne Szenen er als Ausdruck von Naturvorgängen verstand und sie dem Rhythmus der Zeiten unterwarf. Runges Sendung schickte Stolberg Daniel zufolge „mit gereizter Bezeugung der größten Abneigung und äußersten Widerwillen“ zurück; Stolberg hatte aufgrund der in den Darstellungen vorherrschenden Einheit zwischen Figur und Landschaft „baare Pantheisterey gewittert oder vermuthet.“ (Anm. 20) Stolbergs Antwortschreiben ist zwar nicht erhalten, doch muss Runges eigenmächtige Ausdeutung des Stoffes auf dessen Ablehnung getroffen sein; er fand Runges Gedanken, wie dieser selbst gegenüber seinen Geschwistern äußerte, zu „Schlegelisch“ (Anm. 21), und dürfte befürchtet haben, dass Runges Bilder den Text in den Hintergrund drängen könnten (Anm. 22). Trotz Stolbergs Ablehnung, die Runge wohl im April erreicht hatte, beschäftigte ihn der Stoff weiter (Anm. 23); das große Format der erhaltenen Zeichnungen lässt vermuten, dass sie unabhängig vom Buchprojekt entstanden, während Stolberg seine Ausgabe schließlich ohne Runges Illustrationen erscheinen ließ (Anm. 24).
Runges Kenntnis bzw. erste Berührung mit den nordischen Gesängen des James Macpherson, die erstmals 1768/69 in einer deutschen Übertragung erschienen waren (Anm. 25), geht möglicherweise bereits auf seine Jugendzeit in Wolgast zurück. Dort hatte sich der Pastor und Dichter Ludwig Gotthard Kosegarten, Runges Lehrer an der Stadtschule in Wolgast, in verschiedenen Abhandlungen mit dem „Ossian“ beschäftigt (Anm. 26), und in einem eigenen poetischen Werk der christlich orientierten Ossianrezeption den Weg bereitet (Anm. 27). Runges Vater gehörte zwar zu den Subkribenten von Kosegartens Werk (Anm. 28), doch sind keine Quellen bekannt, die eine weitergehende Beschäftigung Runges mit dem Stoff belegen.
Als Runge nach Hamburg ging, war das Thema bei seinem Bruder Daniel und dessen Kreis bekannt. Daniel hatte 1799, bevor Runge nach Kopenhagen an die Akademie ging, einige Verse Ossians in dessen Stammbuch geschrieben (Anm. 29); eine erste künstlerische Auseinandersetzung mit dem Stoff ist für eine der Kopenhagener Preiszeichnungen überliefert, die Daniel beschrieben hat: „Unter breiten Tannenästen hält ein Krieger eine Jungfrau (etwa Fainasollis im 3. Gesange des Gedichtes Fingal?), die von einem Pfeil im Busen getroffen worden, in den Armen; ein andrer, den Bogen noch in der Hand, eilt ihm nach; beide Männer sind Griechisch behelmt.“ (Anm. 30) Isermeyer hatte vermutet, dass sich Daniels Beschreibung auf die Rückseite von Inv. Nr. 34248 bezieht (Anm. 31); Berefelt hat unter Hinweis auf die von Daniels Beschreibung abweichende Thematik diese Identifizierung aber zu Recht abgelehnt (vgl. Inv. Nr. 34248). (Anm. 32) Die von Daniel erwähnte Zeichnung ist heute verschollen, und auch wenn Daniel überliefert, dass er bis zum Jahresende 1804 den Dichtungen Macphersons keine Beachtung schenkte (Anm. 33), ist nicht auszuschließen, dass Runge weitere Zeichnungen anfertigte, die sich ebenfalls nicht erhalten haben. Szenen aus dem „Ossian“ konnte er in Kopenhagen vor allem bei seinem Lehrer Abildgaard kennenlernen (Anm. 34).

Peter Prange

1 HS I, S. 257.
2 HS I, S. 266.
3 HS I, S. 266.
4 HS I, S. 266-267.
5 Vgl. HS I, S. 267.
6 Knabenakt, schwarze Kreide, 518 x 391 mm, Frankfurt am Main, Städel-Museum, Graphische Sammlung, Inv. Nr. 15718, vgl. Traeger 1975, S. 390, Nr. 326, Abb. Das große Format dürfte gegen eine Teilstudie für einen Illustrationsentwurf sprechen, wahrscheinlicher ist der Zusammenhang mit den stehenden Kindern im „Tag“, vgl. Inv. Nr. 34177 und 34178.
7 Vgl. HS I, S. 257-258.
8 Brief vom 15. Januar 1805 an seine Schwester Maria, vgl. HS I, S. 287.
9 Vgl. Wolf Gerhard Schmidt: „Homer des Nordens“ und „Mutter der Romantik“. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur, Berlin 2003, Bd. 2, S. 639.
10 Vgl. Strasser-Klotz 2005, S. 30.
11 Brief vom 29. März 1805 an Tieck, vgl. HS I, S. 258.
12 Vgl. HS I, S. 257.
13 HS I, S. 258.
14 HS I, S. 258.
15 HS I, S. 258.
16 „Ueber Bilder zum Ossian von P. O. Runge 1804-05 in Hamburg“, vgl. Strasser-Klotz 2005, Anhang, S. 3-86.
17 Brief vom 29. März 1805 an Tieck, vgl. HS I, S. 258.
18 Vgl. Brief vom 22. März 1805 an Karl, vgl. Philipp Otto Runge. Briefe in der Urfassung, hrsg. von Karl Friedrich Degner, Berlin 1940, S. 263. Vgl. auch HS I, S. 260.
19 HS I, S. 260-263.
20 HS I, S. 263-264. Zu Stolbergs Ablehnung des Pantheismus und dem „Pantheismusstreit“ vgl. Bertsch 2013, S. 217.
21 HS I, S. 264.
22 Vgl. Henry Okun: Ossian in Painting, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 30, 1967, S. 342-343.
23 Vgl. Brief vom 3. Mai 1805 an Quistorp, vgl. HS I, S. 264-265; Brief an Schildener vom 17. November 1805, vgl. HS I, S. 296; Brief vom 11. Februar 1806 an Gustav, vgl. HS I, S. 65.
24 Die Gedichte von Ossian dem Sohne Fingals. Nach dem Englischen des Herrn Macpherson ins Deutsche übersetzt von Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, Hamburg 1806.
25 Michael Denis: Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersetzt von M. Denis […], 3 Bde, Wien 1768/69. Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte vgl. Schmidt 2003.
26 Vgl. dazu Lewis M. Holmes: Kosegarten’s Cultural Legacy. Aesthetics, Religion, Literature, Art and Music, New York 2005, S. 45, 101, und S. 124-125.
27 Vgl. Schmidt 2003, Bd. 1, S. 393-394.
28 Holmes 2005, S. 143.
29 Vgl. HS I, S. 257.
30 HS I, S. 257.
31 Isermeyer 1940, S. 128.
32 Berefelt 1961, S. 182, Anm. 7.
33 S I, S. 257.
34 Zu Runges Kenntnis von Werken seines Lehrers Abildgaard vgl. zuletzt Bertsch 2013, S. 207-208.

Details zu diesem Werk

Bleistift 423mm x 262mm (Blatt) 30mm x 20mm (Bild) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34222 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

Wir sind bestrebt, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir über Kunst und unsere Sammlung sprechen und diese präsentieren. Daher freuen wir uns über Ihre Anregungen und Hinweise.

Feedback
Weitere Werke von
Philipp Otto Runge