Philipp Otto Runge

Aurora, 1806

Bereits während der Arbeit an dem vierteiligen Zyklus der „Tageszeiten“ hatte Runge eine Ausführung in Malerei vorgeschwebt, „wenn auch nur zuerst als Skizzen.“ (Anm. 1) Im Dezember 1803 arbeitete Runge „recht fleißig am Aufzeichnen meiner Tageszeiten auf die Leinwand, um sie zu mahlen“ (Anm. 2), doch blieb eine Ausführung aus. Erst Ende März 1805 hat Runge gegenüber Tieck wieder eine farbige Fassung der „Tageszeiten“ angedeutet (Anm. 3), worauf er in einem Brief an Schildener im März 1806 wieder zurückkam: „Nun noch einiges über die Radirungen. Ich habe noch immer den Vorsatz, sie zu mahlen, und werde, dieses, wo möglich, wann ich nächsten Herbst wieder hieher kommen sollte, in’s Werk richten, und daher möchte ich keine eigentliche Herausgabe dieser Blätter eher und habe mir nur einige Abdrücke davon machen lassen. – Das erste (den Morgen) bitte ich Sie, ungefähr in dem Effect zu betrachten, wie die Sonne, die sich aus dem Morgennebel heraushebt; so daß der Kugelabschnitt der Erde sich wie ein ferner Berg vor der Morgenröthe im Nebel wälzt; die Gestaltung vorn nur als eine Arabeske zu dem Hintergrunde darauf anspielend. – Das zweyte (der Tag), ein reiner Sonnenschein bey heiterm Himmel, wo der Blüthenstaub in der Luft weht und sich regt, und die Blumen ihre Existenz in einander erweitern möchten und in einander äußerlich die Wurzel finden, und so das Leben ungesehen unter ihnen verrinnt und sie vertrocknen. – Das dritte (der Abend) sollte in den Farben hinten so zusammenkommen, als wenn die Abendröthe mit dem Mondschein am Himmel gleich helle ist, so daß sich beider Schein begegnet; die Farben der Blumen und die Töne der Instrumente würden dieses nachahmen. – Das vierte (die Nacht) sollte unten in Feuer brennen, das aus Blumen bestünde, die in den stillen Schlafenden gesammelt wären, welche von Rauch und Thau bedeckt liegen, der Liebe und des Schutzes gewiß. Die von oben kommen, erwartend die Klarheit des Unendlichen, das über uns ewig und ruhig ist, und aus welchem von neuem im ewigen Cirkelschlag alles aufblühen, zeugen, gebären und wieder versinken wird.“ (Anm. 4) Von dem Vorhaben, die „Tageszeiten“ zu malen, berichtete er mehrmals auch Goethe – am 26. April (Anm. 5) und am 3. Juli (Anm. 6) hoffte er, die Zeichnungen als Skizzen in Öl malen und sie Goethe zuschicken zu können - und äußerte gegenüber Daniel , er habe den Vorsatz gefasst, „diesen Winter daran zu gehen, um von den Tageszeiten etwas zu mahlen“ (Anm. 7), und hoffte im Oktober, nach seiner Rückkehr nach Hamburg, „die Tageszeiten erst recht zu componieren und zu mahlen.“ (Anm. 8) Anfang Dezember schrieb Runge wiederum an Goethe, dass er diesen Winter vorgehabt hatte, „in Hamburg das erste dieser Blätter zu mahlen, und ich werde mich auch nicht beruhigen, ehe ich sie alle gemahlt habe; vielleicht würden Sie dann, indem zu diesem Endzweck die Composition umgearbeitet werden müßte (im Ganzen aber doch so bliebe), durch eine größere Einheit des Ganzen, wie durch den Gegensatz der Töne dieser 4 Bilder, sich mehr angesprochen fühlen.“ (Anm. 9) Wegen der Besetzung durch die Franzosen war es Runge nicht möglich nach Hamburg zurückzukehren, so dass er die Arbeit an den „Tageszeiten“ offensichtlich noch in Wolgast begann, von wo er Ende Februar 1807 an seine Schwiegermutter schrieb, dass er jetzt daran arbeite, die vier Blätter „Mahlerisch zu Componiren.“ (Anm. 10) Die Arbeit ist aber nicht recht vorangekommen, denn Mitte des Jahres schrieb er an Quistorp: „Es ist mein erstes und wichtigstes Bestreben, zuvörderst die Tageszeiten, wie ich sie erfunden, mehr durch und durch fertig zu arbeiten, und wie bey ihrer Entstehung meine ganze Ideenwelt sich auszusprechen strebte, so werde ich diese Ideen in der Mahlerey getreu verfolgen.“ (Anm. 11) Bestätigt wird diese Annahme durch einen Brief an Goethe Ende Oktober, in dem Runge darauf hinweist, dass ihm im Sommer „wenig Zeit und weniger Gelegenheit“ geblieben ist, „viel mehr als den Anfang mit der ausgeführteren Bearbeitung der vier Blätter zu machen.“ (Anm. 12)
Traeger hat aus den überlieferten Nachrichten geschlossen, dass Runge sich im Sommer 1806 darüber klar geworden sein muss, dass sich die „Tageszeiten“ in der alten Form der Kupferstiche nicht in Malerei umsetzen lassen. Vielmehr deutet Runge Anfang Dezember gegenüber Goethe eine Umarbeitung der Kompositionen an, doch haben neben den materiellen Schwierigkeiten Daniels während der napoleonischen Besetzung vor allem Runges Beschäftigung mit der Farbenlehre, die er während dieser Zeit vorantrieb und deren Erkenntnisse er „in der mahlerischen Ausführung seiner Tageszeiten“ (Anm. 13) verwenden wollte, eine schnellere Durchführung des Projekts verhindert. Zwar berichtet Daniel nach Runges Tod in einem Brief an Goethe vom Oktober 1811, dass Runges Mappe „an veränderten und verbesserten Entwürfen zu diesen [zu den „Tageszeiten“, Anm. des Verfassers] ziemlich reich“ (Anm. 14) ist, doch können sich diese nur auf die „Morgen“-Gemälde beziehen. Das Projekt der malerischen Ausführung der „Tageszeiten“ blieb Fragment; nur die beiden Gemälde zum „Morgen“ kamen zur Ausführung.
Waetzoldt hatte die Entwürfe und Studien zum „Kleinen Morgen“ in vier Gruppen unterteilt; die erste Gruppe ist demnach der Erfindung der „Aurora“ gewidmet. Das früheste bildliche Zeugnis zur malerischen Ausführung des „Kleinen Morgens“ dürfte laut Traeger in Inv. Nr. 34187 erhalten sein, in der Runge neben Anregungen Tischbeins (Anm. 15) das Standmotiv der Dresdener Venus (vgl. Inv. Nr. 1938-72) in das Schreitmotiv der „Aurora“ verwandelt, das auch die Drehung des Oberkörpers bedingt. Die züngelnden Haare weisen auf die Ausformulierung als „Aurora“, der Göttin der Morgenröte, voraus; Runge hatte die Hauptfigur verschiedentlich mal Aurora, bald Venus genannt (Anm. 16), doch gibt er „hier keine Göttin, sondern eine menschliche Frauengestalt, menschlich in einem fast bürgerlich-alltäglichen Sinn.“ (Anm. 17) Der einfache, nicht immer sichere Duktus hatte Pauli veranlasst die Umrisszeichnung „bald nach 1803“ zu datieren (Anm. 18), doch findet sich derselbe Zeichenstil auch auf der Rückseite, die von Isermeyer als Vorarbeit zum Portrait der Wilhelmine Helwig erkannt wurde (Anm. 19). Stilistisch entspricht das Blatt der Vorzeichnung (Anm. 20) zum Gemälde „Pauline mit dem zweijährigen Otto Sigismund“, das wie das Portrait der Helwig Anfang 1807 entstand (Anm. 21). Deshalb dürften Vorder- und Rückseite des Hamburger Blattes ebenfalls Ende 1806 entstanden sein.

Peter Prange

1 Brief vom 26. Juni 1803 an Daniel, vgl. HS I, S. 47.
2 Brief vom 16. Dezember 1803 an Pauline, vgl. HS II, S. 251.
3 Brief vom 29. März 1805 an Tieck, vgl. HS I, S. 61.
4 Brief vom März 1806 an Schildener, vgl. HS I, S. 68-69.
5 Brief vom 26. April 1806 an Goethe, vgl. Philipp Otto Runges Briefwechsel mit Goethe, hrsg. von Hellmuth Freiherrn von Maltzahn, Weimar 1940, S. 36.
6 Brief vom 3. Juli 1806 an Goethe, vgl. HS I, S. 98.
7 Brief vom 22. August 1806 an Daniel, vgl. HS II, S. 316.
8 Brief vom 14. Oktober 1806 an Daniel, vgl. HS II, S. 323.
9 Brief vom 4. Dezember 1806 an Goethe, vgl. HS II, S. 330.
10 Brief vom 26. Februar 1807 an Maria Friederica Bassenge, vgl. Wilhelm Feldmann: Philipp Otto Runge und die Seinen. Mit ungedruckten Briefen, Leipzig 1944, S. 54.
11 Brief vom 26. Juni 1807 an Quistorp, vgl. HS I, S. 76.
12 Brief vom 23. Oktober 1807 an Goethe, vgl. HS II, S. 350.
13 Vgl. HS II, S. 503. Vgl. auch Brief vom 18. August 1807 an Tieck, vgl. HS I, S. 230.
14 Brief Daniels vom 13. Oktober 1811 an Goethe, vgl. HS II, S. 434.
15 Vgl. dazu Mildenberger 1986/87, S. 50.
16 Vgl. Traeger 1975, S. 159.
17 Waetzoldt 1951, S. 161.
18 Pauli 1916, S. 36, Nr. 68.
19 Isermeyer 1940, S. 130, Nr. 55.
20 Pauline mit dem zweijährigen Sohn Otto Sigismund, Bleistift, Feder in Schwarz, 249 x 172 mm, ehem. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, SZ 3, vgl. Traeger 1975, S. 413, Nr. 373, Abb.
21 Zum Gemälde vgl. Traeger 1975, S. 413-414, Nr. 374, Abb.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun über Bleistift auf bräunlichem Papier 334mm x 203mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34187 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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