Philipp Otto Runge

Der Morgen (Konstruktionszeichnung - Tageszeiten), 1803

Bevor Runge an die Ausführung der Kupferstichvorlagen ging, unterlegte er in einem weiteren Arbeitsschritt den Kompositionen ein „präzise konstruiertes geometrisches Schema.“ (Anm. 1) In ihnen reduzierte Runge die Komposition auf ein geometrisches Schema, das die „strenge Regularität“ des Aufbaus eindringlich vor Augen führt. Daniel erwähnt die Konstruktionszeichnungen nur einmal kurz als „besonders merkwürdig[e]“ Zeichnungen, „welche die Figuren nur ganz allgemein gehalten, hingegen sehr strenge und genaue geometrische und perspectivische Linien über das Ganze enthalten.“ (Anm. 2) Auch Runge selbst erwähnt sie nur einmal, als er auf Daniels Verwunderung, dass Runge anlässlich seines Umzugs von Dresden nach Hamburg die Kupferstichvorlagen nicht mit nach Hamburg bringen werde, erwidert, dass er neben den Skizzen auch „meine symmetrischen Eintheilungen“ mitbringen werde (Anm. 3).
Waetzoldt ging davon aus, dass dem Beginn der letzten Entwurfsphase die Fertigstellung der Teilstudie zur „Nacht“ (Inv. Nr. 34180) vorausging. Da diese wohl am 20. April vollendet war, und Runge am 15. Mai berichtete, dass er morgen die Kupferstichvorlage (Inv. Nr. 34174) für den „Morgen“ fertig bringen würde (Anm. 4), muss die Konstruktionszeichnung, auf der die Kupferstichvorlage beruht, entsprechend etwas früher bzw. annähernd gleichzeitig zwischen dem 20. April und dem 16. Mai entstanden sein.
Über die am rechten Rand möglicherweise nachträglich von Runge eingetragenen Maßstäbe trägt das Blatt an der vertikalen und horizontalen Symmetrieachse weitere Maßstäbe, die die Darstellung exakt in ein Verhältnis von 3 in der Höhe zu 2 in der Breite bringen. Runge hat das Blatt zunächst mit einem genau vermessenen Netz von Konstruktionslinien versehen, das auf der Maßeinheit des damals in Hamburg gebräuchlichen Maßes 1 Zoll = 2,308 cm beruht. In der Höhe hat Runge 30 Maßeinheiten gegenüber 20 in Breite vorgesehen, so dass sich für das Binnenbild eine Höhe von ca. 69,3 cm gegenüber ca. 46,2 cm in der Breite ergibt. Für die Rahmung sah Runge oben eine Breite von 3 Zoll, seitlich von zwei Zoll vor, so das sich für das Binnenbild ohne Rahmung eine Höhe von 24 und eine Breite von 16 Zoll ergibt; somit wird auch hier das Verhältnis von 3:2 gewahrt. Die angegebene Höhe von 30 Hamburger Zoll (etwa 69,3 cm) entspricht der Höhe der Kupferstichvorlage zum „Morgen (Inv. Nr. 34174); die Konstruktionszeichnung diente Runge somit als maßstabgetreue Vorlage, auf der er die Bildfläche genau vermessen hat. In Sinne einer Quadratur fungiert nicht nur der Maßstab, sondern auch die 3 Zoll hohen Rechtecke unterhalb der Lilienstengel, die in der Kupferstichvorlage die Lilienknospen aufnehmen. Das Blatt verdeutlicht den von Runge verwendeten Terminus „symmetrische Eintheilungen“, denn er hat das Blatt auf der Grundlage der Maßeinheit 1 Zoll symmetrisch in einzelne Abschnitte eingeteilt. „Deutlich tritt die an der vertikalen Bildmittelachse angelegte Symmetrie hervor, welche als übergeordnetes Organisationsprinzip des geometrischen Netzes Binnen- wie auch Rahmenbild gleichermaßen bestimmt.“ (Anm. 5) Die untere Zone ist in vier Horizontalstreifen von jeweils 3 Zoll Höhe, die obere Zone in zwei Horizontalstreifen von je 6 Zoll Höhe eingeteilt. Dies gilt auch für das kreisrunde Jehova-Zeichen, das mit weiteren Maßangaben wie „½“ und „¾“ versehen ist. Der Zirkeleinstich für den Kreis liegt genau in der Mitte zwischen den Massangaben 28 und 29; der Kreis weist einen Radius von einem ¾ Zoll auf.
Waetzoldts Beobachtung, dass dabei Blumen und Kinder „nirgends in die ihnen zugeteilten geometrischen Kompartimente eingezwängt“ (Anm. 6) sind, lässt sich nur bedingt nachvollziehen. Dies gilt sicher für die auf den Blütenstengeln sitzenden Kinder, weniger für die auf dem Lilienkelch sitzenden und auf den Blütengefäßen stehenden Kinder. Zwar treten sie über die geometrische Konstruktion hinaus, doch ist das Bemühen deutlich, ihren Umriss in die Konstruktion der Raute einzuschreiben.
Während die Maßstabsangaben innerhalb der Darstellung auf die Kupferstichvorlage bezogen werden müssen, hat Waetzoldt darauf hingewiesen, dass die beiden Maßstabsangaben am rechten Rand mit der geplanten Ausführung als Wandgemälde in Verbindung stehen (Anm. 7). Der äußere Maßstab entspricht 15 Zoll, doch dass Runge den Maßstab mit der Beschriftung „15 fuß“ versah, wertete Waetzoldt als Hinweis auf die geplante Ausführung als Wandgemälde. Ob man aus der Angabe wie Waetzoldt und Traeger schließen kann, dass Runge ein Wandgemälde in Höhe von 30 Fuß in der Höhe und 20 Fuß in der Breite plante – also etwa Ausmaße von 8,60 x 6,10 Meter -, oder doch nur in Höhe von 15 Fuß – also etwa 4,30 Meter – vorsah, muss offen bleiben. Auf eine kleinere Ausführung könnte aber Daniels Hinweis in Bezug auf die späten „Morgen“-Gemälde deuten, dass „nicht eben nothwendig anzunehmen [ist], daß der Künstler sich eine Ausführung in so ungeheurem Maastabe gedacht habe, sondern 24 Fuß, statt 6 vielleicht, anzunehmen war etwa eine Zahl, welche die daraus gefolgerten kleineren Verhältnisse mehr in ganzen und weniger gebrochnen Zahlen bequemer ergab.“ (Anm. 8)
Dass Runge weiterhin auf die Ausführung als Wandgemälde hoffte, belegen Äußerungen von ihm aus der Zeit. Mitte Juni berichtet er Daniel von einem Besuch in Meißen, wo ihn der Meißner Dom tief beeindruckte: „Bey der Meißner Kirche ist mir ein Gebäude für meine Bilder recht wieder eingefallen; auf die Art müßte es eigentlich sein. – Wenn sich die Leute bey den Kirchhöfen vor der Stadt Hamburg irgendwo doch so eine Capelle wollten bauen lassen, und mir den Auftrag geben, das sollte doch noch ein Gebäude werden.“ (Anm. 9) Einen Moment später erwähnt Runge Karls Gutsherrn Erblandmarschall von Hahn, Karl hätte ihm schon voriges Jahr gesagt, „daß derselbe stark bauen will und gern mit Künstlern bekannt würde. Wenn ich also mit dem übereinkommen könnte, um diesen oder einen ähnlichen Gedanken bey ihm auszuführen, - es ist doch nicht unmöglich und ich gebe es als einen flüchtigen Gedanken.“ (Anm. 10) Runge hielt sich mit den Konstruktionszeichnungen offensichtlich beide Möglichkeiten der Ausführung als Kupferstich und Wandgemälde offen. Die Konstruktionszeichnung diente ihm als Karton für die im Format übereinstimmende Kupferstichvorlage (Inv. Nr. 34174), und hätte im Falle einer Ausführung als Wandgemälde als eine Art quadrierte Vorlage fungieren können.
Für den zweiten angegebenen Maßstab „ 2 fuß 5 Kopflängen“ nahm Waetzoldt an, das sich diese Angabe auf das Verhältnis von Kopf zu Körper der Kinder beziehe (Anm. 11). Ein solcher Bezug ist nicht erkennbar, zumal der Maßstab sich wie bei den anderen nicht der Zolleinheit entspricht.

Peter Prange

1 Büttner 2010, S. 65.
2 Vgl. HS I, S. 229.
3 Brief an Daniel vom 9. Oktober 1803, vgl. HS II, S. 243.
4 Brief an Daniel vom 15. Mai 1803, vgl. HS II, S. 215.
5 Lange 2010, S. 182.
6 Waetzoldt 1954, S. 240.
7 Waetzoldt 1951, S. 34, Anm. 89; Waetzoldt 1954, S. 239, Anm. 16.
8 Vgl. HS I, S. 235.
9 Brief an Daniel vom 12. Juni 1803, vgl. HS II, S. 220.
10 Brief vom 20. Juli 1803 an Daniel, vgl. HS II, S. 225; vgl. auch HS II, S. 496.
11 Waetzoldt 1951, S. 34, Anm. 89.

Details zu diesem Werk

Feder in Grau über Spuren von Bleistift 730mm x 508mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34173 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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