Philipp Otto Runge

Petrus auf dem Meer (STudie zum Gemälde "Die Flucht nach Ägypten"), 1806

Ein erster Hinweis zu einem Gemälde für Gotthard Ludwig Kosegartens Uferkapelle in Vitt auf Rügen findet sich in einem Brief von Runges Bruder Jakob Anfang Juli 1805, in dem er von dem Besuch einiger Greifswalder Persönlichkeiten berichtet, zu denen auch Carl Schildener und Kosegarten gehörten. Im Zusammenhang mit dem Altargemälde für die Marienkirche in Greifswald ließ Jakob durchblicken, „wie angenehm es uns seyn würde, wenn Du auch etwas zu seiner [Kosegartens] Ufercapelle machen könntest.“ (Anm. 1) Nach Daniel hatte Kosegarten, Runges Jugendfreund, „den Bau einer Capelle am Meeresufer bey dem eingepfarrten Fischerdorf Vitte veranlaßt, wo bis dahin an mehreren Sonntagen im Sommer Gottesdienst im Freyen gehalten worden war, wann der stündlich erwartete Zug der Heringe es den Bewohnern nicht gestattete, in die fern liegende Kirche zu gehen. Er wünschte sich in dieses kleine Gebäude ein Bild, entweder von dem Mahler Fridrich, oder von unserm R.“ (Anm. 2) Ein Jahr später, nachdem möglicherweise Caspar David Friedrich den Auftrag abgelehnt hatte (Anm. 3), berichtete Runge Anfang Juli von einem Aufenthalt auf Rügen (Anm. 4), bei dem Kosegarten ihm wahrscheinlich den Auftrag zu dem Gemälde erteilt hat (Anm. 5), den Runge wenig später gegenüber Daniel konkretisierte: „K. meynte, es könnte Christus, wie er den Wind bedräuet (Matth. VIII), werden, oder wie Petrus auf dem Meer geht (Matth. XIV). Letzteres zieht mich mehr an, und ist auch eine deutlichere Handlung darin. Der Platz, der für das Bild übrig, ist 9 Ellen lang und breit, also kann ich es in jeder Form machen, die mir gut däucht.“ (Anm. 6)
Das Gemälde hat Runge nicht vor Ende 1806 begonnen (Anm. 7); im Oktober hatte es sich noch „nicht gezwungen, die Composition zu Kosegarten’s Capelle fertig zu machen“ (Anm. 8), und erst Ende November wollte sich Runge „sehr bemühen, das Bild für Kosegarten’s Capelle recht auszuarbeiten und durchzugehen.“ (Anm. 9) Am 20. Dezember hatte er „diese Zeit viel an dem Bilde für Kosegarten mir vorgearbeitet“, so dass er bereit war, „eine Skizze in Oel in ziemlicher Größe davon zu mahlen“ (Anm. 10), d. h., die Ausführung des Gemäldes muss zu diesem Zeitpunkt unmittelbar bevorgestanden haben. Im Januar 1807 konnte Runge Perthes mitteilen, er habe eine „ziemlich große Composition zu Kosegarten seiner Capelle untermahlt, ein Mondscheinstk.“ (Anm. 11) Seine Fertigstellung erhoffte sich Kosegarten Mitte Januar 1807 zusammen mit der Kapelle, die bis „spätestens zum September“ vollendet sein sollte, doch konnte Kosegarten Runges Arbeit „nicht im geringsten belohnen.“ (Anm. 12) Kosegartens Bedingungen waren für Runge unannehmbar; danach wurde die Unternehmung in Runges Korrespondenz nie mehr erwähnt. Runges Gemälde blieb unvollendet, Kosegartens im Frühjahr 1807 begonnener Kapellenbau konnte aufgrund von Baumängeln und der Besetzung Rügens durch Napoleon erst im Herbst 1816 eingeweiht werden.
Das vorliegende Blatt gilt als der älteste erhaltene Entwurf zum Gemälde, das am 20. Dezember noch nicht angefangen war. Wenn man davon ausgeht, dass eine intensivere Beschäftigung mit der Komposition erst nach Mitte Oktober einsetzte, ergibt sich eine Entstehung für das Blatt im Oktober oder November 1806. Ob es allerdings zu den Skizzen von mehreren angefangenen Sachen gehörte, die Runge Anfang Dezember 1806 Goethe schicken wollte (Anm. 13), wie Traeger vermutet (Anm. 14), muss offen bleiben, denn einen Beleg gibt es für diese Annahme nicht.
Daniel erwähnt das Blatt gegenüber Inv. Nr. 34158 als „weit unvollkommnere Skizze in Federumrissen“, auf der „unter den Jüngern hinten im Schiff einer völlig niedergeworfen [ist], so daß man sein Gesicht nicht sieht.“ (Anm. 15) Er ist am rechten Rand des Bootes niedergebeugt erkennbar, das die gesamte linke Bildhälfte einnimmt. Für die weitere Bildfindung wichtig ist bereits in diesem Entwurfsstadium die Entscheidung, das Bildgeschehen in zwei Hälften zu teilen. Links befindet sich in dem Boot die Gruppe der Jünger, während in der rechten Hälfte Petrus von Jesus empfangen wird. Die Apostel haben das Geschehen nur teilweise bemerkt, manche reden miteinander, andere haben sich abgewendet, während Petrus, der in seinem „altdeutschen“ Habitus an den Joseph aus der „Ruhe auf der Flucht“ (Inv. Nr. 34152) erinnert, sich unsicher Jesus nähert. Dies geschieht auf eine erstaunlich undramatische, entemotionalisierte Weise, die im Gegensatz zur aquarellierten Fassung (vgl. Inv. Nr. 34158) und vor allem dem ausgeführten Gemälde steht. Die einzelnen Apostel erscheinen nicht als Individuen sondern als formelhafte Typen – ein Mangel, der Runge während der Arbeit bewusst geworden sein muss, und der in der Folge zu der in seinem Werk einzigartigen Folge von individuellen Ausdrucksstudien führte (vgl. Inv. Nr. 34159-34166).
1 Brief Jakobs vom 6. Juli 1805 an Runge, vgl. HS II, S. 291-292.
2 Vgl. HS I, S. 348.
3 Vgl. Helmut Börsch-Supan/ Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, S. 25.
4 Brief vom 8. Juli 1806 an Daniel, vgl. HS II, S. 313. Die „längst beabsichtigte Reise“ fand laut Daniel im Mai statt, vgl. HS II, S. 501.
5 Otto Böttcher: Philipp Otto Runge. Sein Leben, Wirken und Schaffen, Hamburg 1937, S. 63. Laut Daniel traf Runge auf dieser Reise mit Kosegarten zusammen und hatte „viel mit ihm gesprochen“, vgl. HS II, S. 311, und S. 501. Auffallend ist allerdings, dass Klinkowström am 7. August 1806 aus Zeitgründen die unentgeldliche Anfertigung einer Kopie nach Raffaels „Wunderbaren Fischzug“ ablehnt, und hofft, dass Runge „die Arbeit bekomm[s]t“, vgl. Brief von Klinkowström vom 7. August 1806 an Runge, vgl. HS II, S. 315.
6 Brief vom 19. Juli 1806 an Daniel, vgl. HS I, S. 348.
7 Nach Daniel ist es „im December 1806 und im Januar 1807 in Wolgast“ entstanden, vgl. HS I, S. 346.
8 Brief vom 14. Oktober 1806 an Daniel, vgl. HS II, S. 323.
9 Brief vom 29. November 1806 an Daniel, vgl. HS II, S. 329.
10 Brief vom 20. Dezember 1806 an Daniel, vgl. HS II, S. 333.
11 Philipp Otto Runge’s Briefe in der Urfassung, hrsg. von Karl Friedrich Degner, Berlin 1940, S. 326.
12 Brief von Kosegarten vom 14. Januar 1807 an Runge, vgl. HS II, S. 335.
13 Brief vom 4. Dezember 1806 an Goethe, vgl. HS II, S. 331.
14 Traeger 1975, S. 407.
15 Vgl. HS I, S. 348.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun über Bleistift 606mm x 805mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 34157 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1800-1850 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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