Max Klinger

"Alpdrücken", 1879

Die in ihrer Drastik kaum zu überbietende Szene in Alpdrücken zeigt einen enthaupteten Inkubus, der über einem im Bett liegenden Mann hockt. Bedrohlich schwenkt der Nachtmahr einen Eisenhaken über dem Kopf des Schlafenden, in dem ein Selbstporträt Klingers zu erkennen ist. Die furiose Gestalt fährt dem Künstler mit dem Kamm durch das Haar, während ihr abgeschlagenes Haupt mit offenen Augen sein Opfer unverhohlen anglotzt. Immer wieder hat Klinger sich in seinen Radierzyklen im Bann von Alpträumen und Chimären dargestellt. Inspiriert von den Traumbildern Goyas und unter dem Einfluss der damaligen Traumforschung inszeniert er Ängste und Bedrängungen in Radierfolgen wie Ein Handschuh (1881). Die dort geschilderten Traumvisionen wurden zum Vorbild für die Surrealisten. Wie Klinger in seinem 1891 publizierten Traktat Malerei und Zeichnung betonte, ist in seinen Augen jedoch vor allem die Zeichnung das geeignete Medium, um die „dunkle Seite des Lebens“ abzubilden, wie es ihm mit Alpdrücken auf radikale Weise gelungen ist.

Petra Roettig
Die in ihrer Drastik kaum zu überbietende Szene zeigt einen schlafenden Mann, der ohne Zweifel als Max Klinger selbst zu identifizieren ist. Dicht an den vorderen Bildrand gerückt, wird der Kopf des im Bett liegenden Künstlers von einem grauenvollen Nachtmahr bedrängt, der ihm Alpträume beschert. Der enthauptete Inkubus hockt über dem Kopf und kämmt mit der linken Hand die Haare des Künstlers, die in Alpträumen stets eine magische Rolle spielen, während die Finger das linke Auge öffnen, um zu prüfen, ob noch Leben im Körper ist. Die rechte Hand holt soeben zum kräftigen Schlag mit einem wie ein Schürhaken aussehenden metallenen Gegenstand aus. Das abgeschlagene Haupt des Inkubus glotzt mit großen Augen und bleckenden Zähnen den Schlafenden aus allernächster Nähe an. Die wie Gewehrläufe wirkenden Halsschlagadern bedrohen den Träumenden zusätzlich. Der Hintergrund der Szene zeigt mit der stumpfen Rohrfeder tonig schraffierte, unruhig flackernde, dunkle Nacht. Die Figuren hingegen sind klar mit der Feder umrissen.
In Klingers Werk kommen häufiger solch alptraumartige Szenen vor, so unter anderem in dem schon 1878 gezeichneten und drei Jahre später radierten Zyklus "Ein Handschuh" (Opus VI). Dort wird die Rolle des bedrohlichen Inkubus durch den gleich einem Fetisch verehrten Handschuh der geliebten Frau eingenommen. Der Künstler wurde sicher durch zeitgenössische Schauerromane wie auch durch literarische und bildliche Darstellungen von Alpträumen beeinflusst. Im selben Jahr veröffentlichte zum Beispiel Odilon Redon seinen lithographischen Zyklus "Dans le Rêve" ("Im Traum"), in dem zahlreiche körperlose Köpfe herumspuken. Vielleicht kannte der Künstler auch die bereits 1877 in Berlin erschienene Publikation "Der Alp" von Woldemar Cubasch.

Andreas Stolzenburg.

Details zu diesem Werk

Feder (und Rohrfeder) in Schwarz, schwarzer Stift; fest aufgezogen 422mm x 274mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 33906 Sammlung: KK Zeichnungen, Deutschland, 1850-1900 © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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