Max Klinger
"Die Zukunft" (Der Tiger in der Felsschlucht), 1879
Ein Tiger steht hochaufgerichtet in einer steilaufragenden Felsschlucht und versperrt dem Betrachter den Durchgang. Das monumentale Raubtier hat etwas Bedrohliches und lässt an Traumbilder denken, die den Künstler wahrscheinlich aus eigenem Erleben häufig beschäftigten. Diese 1989 erstmals veröffentlichte und seither oft ausgestellte, grandiose Federzeichnung Klingers ist die seitengleiche Vorstudie zur im Format etwas kleineren Radierung "Erste Zukunft" aus dem graphischen Zyklus "Eva und die Zukunft" (Opus III) von 1880 (H. W. Singer: Max Klingers Radierungen, Stiche und Steindrucke, Berlin 1909, S. 22, Nr. 44). Die Folge besteht aus drei Episoden zum Leben von Adam und Eva, die durch drei "Zukunft" betitelte Zwischenblätter ergänzt werden.
Hans Wolfgang Singer, der Verfasser des noch heute gültigen kritischen Verzeichnisses der Druckgraphik Klingers, beschrieb die drei Darstellungen der "Zukunft" und ihre Bedeutung innerhalb der Folge: "'Die Zukunft', die Eva der Menscheit durch ihren Sündenfall bescherte, ist der Schrecken des Todes. Er erscheint in drei sich steigernden Stufen" (Singer 1909, S. 20). Der "Ersten Zukunft" mit dem Tiger, der Singer zufolge die überall lauernden und unausweichlichen Naturgewalten symbolisiert, folgt als "Zweite Zukunft" ein satyrhafter, auf einem Blutegel rudernder Mann sowie als "Dritte Zukunft" der Tod selbst, der mit einem Pflasterhammer die Toten in die Erde rammt.
Beim Übertragen der Zeichnung auf die Kupferplatte milderte Klinger die Steilheit der Bildproportionen, verstärkte aber zugleich den Eindruck bedrohlicher Unausweichlichkeit, in dem er die Schlucht verengte und verdunkelte und den Tiger, der mit dem Hintergrund des Sündenfalls auch als Ausdruck triebhafter Sinnlichkeit gedeutet werden darf, monumentalisierte.
Alfred Lichtwark, ab 1886 Direktor der Hamburger Kunsthalle, wurde recht früh auf Klinger aufmerksam. Bereits 1884 sah er dessen Dekorationsmalereien in der Villa Albers in Berlin-Steglitz - heute zum Teil in der Hamburger Kunsthalle -, und 1891 übersandte ihm der Künstler ein Exemplar seiner kunsttheoretischen Schrift "Malerei und Zeichnung" mit Widmung (Hamburger Kunsthalle, Bibliothek). Die ausgestellte Zeichnung wurde Lichtwark 1895 von dem Berliner Kunsthändler Hermann Sagert angeboten. Nachdem er sie in Berlin persönlich in Augenschein genommen hatte, entschloss er sich im selben Jahr zum Ankauf. Noch 1909, als Klinger das Brahmsdenkmal für die Hamburger Musikhalle schuf, schlug Lichtwark ihm vor, einen Raum in der Kunsthalle auszugestalten, was aber nie realisiert wurde.
Andreas Stolzenburg