Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

Die Pest auf Kreta, gen. Il Morbetto, um 1515

Immer wieder werden die Menschen von verheerenden Seuchen heimgesucht. Diese erschreckende Erkenntnis hatte schon Raffael, aber sie ist auch 500 Jahre nach seinem Tod noch sehr aktuell. Während im 21. Jahrhundert das furchtbare Sterben infolge der Pandemie zumeist hinter verschlossenen Türen stattfindet, geschah dies in früheren Zeiten viel häufiger in aller Öffentlichkeit. Hiervon zeugt Raffaels ergreifende Darstellung der Pest auf Kreta. (Anm. 1) Sie zählt zu seinen inhaltlich wie formal faszinierendsten Kompositionen und ist ein Musterbeispiel dafür, dass Raffael weitaus mehr als ein lieblicher Madonnenmaler war. Der Künstler reagiert auf neueste Bildschöpfungen von Michelangelo (Anm. 2) oder Sebastiano del Piombo und verarbeitet zudem aktuelle archäologische Erkenntnisse. Berühmt wurde Raffaels Erfindung nicht durch ein Gemälde oder eine Wandmalerei, sondern durch einen von Marcantonio Raimondi mit Bravour ausgeführten Kupferstich. Die Darstellung zeigt eine Szene aus dem Leben des Aeneas, dem mythischen Gründungsvater Roms. Dieser war mit seinen Gefährten – wie Vergil berichtet – auf der Flucht aus dem brennenden Troja nach Kreta gelangt (Aeneis, Buch 3, 138–140). In falscher Auslegung eines Orakels sahen sie dort ihre neue Heimat, was aber ein furchtbarer Trugschluss war. Nachdem die Gemeinschaft nämlich das Land kultiviert und Häuser errichtet hatte, wurde sie von einer Pest heimgesucht. Die Wirkung der verheerenden Seuche zeigt der Kupferstich in schonungsloser Direktheit. So sieht man etwa im Vordergrund rechts wie ein Mann sich zum Schutz vor Ansteckung und den üblen Gerüchen die Nase zuhält und gleichzeitig versucht, ein Kleinkind von der Brust der von der Seuche bereits dahingerafften Mutter fernzuhalten. Im linken Bildteil betrachtet ein anderer Mann mit einer Fackel einen Haufen verendeter Tiere. Zwischen diesen beiden Szenen befindet sich gleichsam als Trennung des Blattes eine große Herme, an deren Basis ein verzweifelter Mensch kauert. Zur scheinbar hoffnungslosen Gesamtstimmung tragen auch ein schonungsloses Vergil-Zitat (Anm. 3), die zerstörten Säulen und der in unheimliches Dunkel getauchte Raum links bei. (Anm. 4) Bei näherer Betrachtung erschließt sich aber auch eine positive Ebene der Komposition. Sie beginnt oben links, wo Mondstrahlen in den dunklen Raum hineinleuchten. Dort erkennt man, wie – Vergil zufolge – Aeneas im Traum die phrygischen Hausgötter erscheinen und zur Flucht von Kreta auffordern. (Anm. 5) Er soll sich eiligst nach Italien aufmachen, um dort fortan als Stammvater Roms zu wirken. Wie in einer Zukunftsschau ist der enorme Aufstieg der Stadt mit oben rechts erkennbaren antiken Bauten vorweggenommen. Raimondi hat seinen aufgrund der Vergil-Bezüge sicherlich für ein gebildetes Publikum gedachten Kupferstich signiert und zudem Raffael als Erfinder benannt. Tatsächlich befindet sich in den Uffizien in Florenz eine auf um 1512 datierte lavierte Federzeichnung, die die Komposition in nahezu identischer Größe seitenverkehrt zeigt. Das stark beschädigte Blatt ist in der Zuschreibung umstritten, doch könnte es sich um einen Entwurf Raffaels oder um eine Wiederholung aus seiner Werkstatt handeln. (Anm. 6) Ob diese Zeichnung allerdings bewusst für eine Umsetzung in einen Kupferstich gedacht war, ist nicht zwingend ableitbar. (Anm. 7) Unabhängig davon erwies sich Raimondi bei dieser als Il Morbetto (= kleine Pest (Anm. 8) ) bekannten Wiedergabe als kongenialer Interpret Raffaels. (Anm. 9) Der wohl um 1515 (Anm.10) entstandene Stich fand stets die Bewunderung der Kenner, die die reiche Tonalität und malerischen Effekte vor allem in der differenzierten Wiedergabe unterschiedlicher Lichtquellen hervorhoben. (Anm. 11)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 314, Nr. 417; Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel
Hill/Wellesley 1981, S. 118–119, Nr. 31 (Beitrag Carolyn Wood); Höper 2001,
S. 206–207, Nr. A 91.1; Knaus 2016, S. 51–57; Ausst.-Kat. Rom 2020, S. 175, Nr.
IV.16 (Beitrag Vincenzo Farinella)

1 Gemeinhin wird der Kupferstich die Pest in Phrygien genannt; vgl. z. B. Höper 2001, S. 206; Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 175, wo sogar die Pest in Phrygien als auch die Pest in Kreta als Titel angegeben wird. Dies ist allerdings schwer nachvollziehbar, da sich Phrygien in Kleinasien befindet, sich die Pest aber laut Vergil auf Kreta ereignet. Aus diesem Grund wird hier ein von der Gewohnheit abweichender Titel verwendet.
2 Höper 2001, S. 207; zum Wettstreit mit del Piombo vgl. Bloemacher 2016, S. 206–207.
3 Auf einer direkt daneben befindlichen Schrifttafel fasst ein Vergil-Zitat die trostlose Situation zusammen: „Wer aus dem Leben nicht schied, dem geliebten, der schleppte den Körper siechend dahin.“ (Aeneis Buch 3, 140).
4 Knaus 2016, S. 55.
5 Bei Vergil lautet die Passage: „Da erschienen die heiligen Bilder der Götter und Ilions Penaten“; vgl. Knaus 2016, S. 53, Anm. 64.
6 Feder, laviert, weiß gehöht, 200 x 248 mm; Uffizien, Florenz, Inv.-Nr. 525 E; Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 452, S. 600, Nr. 452; vgl. Knaus 2016, S. 51–55; im Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 176, wird die Zeichnung ohne weitere Diskussion als Autograph Raffaels angesehen. Zu den weiteren Zeichnungen, die mit dem Kupferstich in Verbindung gebracht werden vgl. Bloemacher 2016, S. 206–207.
7 Sollte es sich bei der Uffizien-Zeichnung um eine direkt für eine graphische Umsetzung entworfene Zeichnung handeln, dann ist der zeitliche Abstand zum Kupferstich schwer zu erklären. Die Zeichnung wird aufgrund formaler Ähnlichkeiten in die Nähe der Befreiung Petri in der Stanza di Eliodoro um 1512 angesetzt, wohingegen die Reproduktion aus stilistischen Gründen nicht vor 1514, eher sogar etwas später angesetzt werden sollte (vgl. Anm. 10); vgl. auch Knaus 2016, S. 55, besonders Anm. 68. Grundsätzlich ist eine lavierte Vorzeichnung für einen Kupferstich eher ungeeignet.
8 Diese Bezeichnung leitet sich offenbar vom kleinen Format des Stichs ab; vgl. Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981 1981, S. 118.
9 Kleinere Unterschiede zur Zeichnung dürften auf den Stecher zurückzuführen sein. Ein Spezialproblem stellt die Frage der Lesart der Komposition dar. Auf der zum Stich seitenverkehrten Uffizien-Zeichnung wird die Erzählung Vergils besser wiedergegeben, da der Traum des Aeneas erst nach dem Ausbruch der Pest geschieht. Andererseits könnte man die auf dem Stich rechts erkennbaren römischen Bauwerke als Erfüllung des oben links zu sehenden Traums betrachten; vgl. auch Knaus 2016, S. 54, Anm. 65.
10 Die Datierung des Blattes ist in der Literatur zu Raimondi schwankend. Vorgeschlagen wurde eine zeitnahe Entstehung von Stich und Zeichnung, was für eine Datierung um 1512/13 spräche; vgl. z. B. Bloemacher 2016, S. 206; aus stilistischen Gründen wird durchaus überzeugend auch eine spätere Entstehung um 1515 vorgeschlagen. Hierfür spricht die Kombination der eher malerischen, tonal feinen Technik der Frühzeit mit der ruhigeren parallelen Linienführung der Spätphase; vgl. Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981, S. 118– 119.
11 Vgl. Knaus 2016, S. 54

Details zu diesem Werk

Kupferstich 201mm x 258mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 328 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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