Raffaello Sanzio Morghen, Stecher
Giovanni Volpato, Stecher, Verleger
nach Bernardino Nocchi, Zeichner
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder
Calcografia Romana, auch Calcografia Camerale

Die Gerechtigkeit / "JUSTITIA", 1784

Aus: Vier Tondi der Stanza della Segnatura

Die vier Allegorien der Poesie, Theologie, Justitia und Philosophie stellen sicherlich die markantesten Motive der Decke der Stanza della Segnatura dar (Inv.-Nr. 17210d). Es handelt sich um Darstellungen der Vier Fakultäten, wobei hier die Medizin durch die Poesie ersetzt wurde. (Anm. 1) Sämtliche Figuren werden durch Attribute, bestimmte Farben sowie durch Zitate aus ihren Wirkungsgebieten charakterisiert. (Anm. 2) So weisen etwa Lyra und Lorbeerkranz die Poesie und Schwert und Waage die Gerechtigkeit aus. Alle vier Figuren sind in enge Bezüge zu den darunter befindlichen großen Wandbildern gesetzt. So neigt beispielsweise die Justitia den Blick auf das unter ihr befindliche Lünettenfeld, auf dem Allegorien von Tapferkeit, Weisheit und Mäßigung zu sehen sind (vgl. Inv.-Nr. 3152k). Zusammen bilden sie die vier Kardinaltugenden. (Anm. 3)

Über die Autorschaft der Kompositionen herrschte früher Uneinigkeit, doch wird inzwischen nahezu einstimmig Raffael als Urheber angesehen. (Anm. 4) Ihm gelangen Musterbeispiele von hoheitsvollen Allegorien, die gleichermaßen in sich ruhen und Autorität ausstrahlen.

Nachdem bereits um 1515 eine Variation der Poesie durch einen Kupferstich Marcantonio Raimondis bekannt gemacht wurde (Inv.-Nr. 313), dauerte es aber noch eine längere Zeit, bis auch die anderen Tondi reproduziert wurden. Die erste komplette Serie schuf Benoît Audran wohl noch vor 1700. (Anm. 5) Sie blieb maßgeblich bis zum Auftreten Raphael Morghens. Dieser gebürtige Neapolitaner war erst durch relativ wenige Arbeiten hervorgetreten, als er 1781 die beiden Allegorien der Poesie und der Theologie ausführte. (Anm. 6) Sie entstanden im Auftrag von Giovanni Volpato, der damals bereits an seiner großen Serie der Reproduktionen nach den Wandbildern der Stanzen arbeitete (vgl. Inv.-Nr. 1915-92). Durch neuere Forschung ist nachweisbar, dass auch die vier Tondi der Decke der Stanza della Segnatura zu Volpatos Editionsprogramm der Stanzen zählten (s. ausführlich Inv.-Nr. 1915-92). (Anm.7) Dass Volpato dem noch sehr jungen Morghen diese wichtigen Arbeiten anvertraute, spricht für dessen damals sicherlich schon erkennbaren künstlerischen Qualitäten. Morghen griff bei der Poesie und der Theologie – wie auch bei den beiden anderen, dann 1784 vollendeten (Anm. 8) Tondi – auf sehr gute farbige Studien von Bernardino Nocchi zurück. (Anm. 9) Wie die Angaben auf den Blättern belegen, war Giovanni Volpato stets als eine Art Werkstattleiter an der Qualitätskontrolle beteiligt. Auch ist gesichert, dass namentlich nicht näher bekannte Mitglieder aus dessen Team Detailarbeiten übernahmen. (Anm. 10)

Die vier Druckgraphiken veranschaulichen Morghens ausgeprägte stecherische Begabung, die auch darin liegt, dass er sich den bereits von Volpato für die Stanzen-Serie gemachten Vorgaben anpasste. Daher finden sich auf seinen Blättern stets Genauigkeit gepaart mit einem malerischen Effekt, der durch starke Kontrastierung und weiche Übergänge erzielt wird. Anders als etwa Audran nutzte er den gesamten Papiergrund, von dem sich die vier Hauptpersonen wirkungsvoll abheben. Die vier Reproduktionen der Tondi setzten Maßstäbe und haben für lange Zeit die allgemeine Vorstellung von Raffaels Werken wie auch vom Aussehen von Allegorien geprägt.
David Klemm

LIT (Auswahl): Palmerini 1824, S. 137, Nr. 49; Höper 2001, S. 389, Nr. F 6.8 (mit
älterer Lit.) ; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 136–139

1 Dussler 1966, S. 80.
2 Die Theologie trägt ein rotes Kleid, grünen Mantel und weißen Schleier und hält ein Buch, mit ihrer Rechten weist sie auf die direkt unter ihr befindliche Disputà. Die Putti tragen Tafeln mit den Inschriften: „Von göttlichen Dingen“ und „Kunde“ nach Justinians Corpus iuris civilis I, Digesta. Die direkt oberhalb der Schule von Athen befindliche Philosophie trägt ein vierfarbiges Gewand und hält zwei Bücher mit den Titeln Moral und Natur; die Putten tragen Tafeln mit der Inschrift „Das Denken der Ursachen“ aus: Vergil, Georgica Buch 2, 490-492 (oder nach Ciceros Topica 18, 67). Die Poesie ist direkt oberhalb vom Parnass angeordnet. Die beiden sie umgebenden Putti halten Tafeln mit der Devise „Vom Geiste angehaucht“ nach Vergil, Aeneis Buch 6, 50. Die Gerechtigkeit befindet sich oberhalb der Tugenden. Ihre Devise stammt aus Justinians Corpus iuris civilis I, Institutiones; vgl. Dussler 1966, S. 80; Pfeiffer 1975, S. 153; Pfeiffer bietet eine grundlegende Analyse der komplexen Ableitungen, Bezüge und Hintergründe der Inschriften an der Decke der Stanza della Segnatura.
3 Schon seit Platons Schrift Der Staat wird der Justitia innerhalb der Tugenden eine hervorgehobene Position zugeteilt. Die Putti halten Tafeln mit den Worten des großen Gesetzgebers Justinian: „Sie teilt jedem sein Recht zu“.
4 Frommel sah in den Putten und im Gewand der Theologie eine Beteiligung von Sodoma; vgl. Frommel 2017, S. 19.
5 Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 42–43, Nr. VI. 5–8; Höper 2001, S. 388–389, F 6.1–4.
6 Die Datierung beruht auf den Angaben des ersten Biographen Palmerini; vgl. Palmerini 1824, S. 11.
7 Yarker 2016.
8 Vgl. Palmerini 1824, S. 13–14.
9 Interessanterweise befindet sich in der Stuttgarter Sammlung ein Stich mit der Theologie von Morghen, bei dem Stefano Tofanelli als Zeichner angegeben ist. Dabei muss es sich nach Lage der neueren Forschung um einen Fehler handeln, da Nocchi als Vorlagenzeichner gesichert ist; vgl. Höper 2001, S. 388, F.
6.6; Yaker 2016.
10 Palmerini 1824, S. 14.

Details zu diesem Werk

Kupferstich, Radierung 425mm x 383mm (Platte) 706mm x 522mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 3152r2 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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