Giovanni Volpato, Radierer, Verleger
nach Bernardino Nocchi, Zeichner
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder

Der Borgo-Brand, 1783

Aus: Le stanze di Raffaello, Bl. 6

Mitte 1514 begann Raffael im Auftrag von Papst Leo X. im Vatikanischen Palast mit der Ausmalung eines dritten Raumes, der sog. Stanza dell’Incendio. Dieser sollte vier Darstellungen mit denkwürdigen Ereignissen von Päpsten mit dem Namen Leo aufweisen: Die Schlacht von Ostia (Inv.-Nr. 50025), den Rechtfertigungseid Leos III. (Inv.-Nr. 50023), die Krönung Karls des Großen (Inv.-Nr. 50024) und den Borgo-Brand. Auf diese Weise konnte sich der amtierende Papst im Glanze seiner verdienstvollen Vorgänger spiegeln. Nicht zufällig war Raffael dazu verpflichtet, den historischen, längst verstorbenen Personen die Gesichtszüge des amtierenden Medici-Papstes zu verleihen. (Anm. 1)

Bei dem Borgo-Brand handelte es sich um ein im Liber Pontificalis, einem Buch mit Papstbiographien, dokumentiertes Ereignis aus dem Jahr 847. Danach war nahe dem Vatikan ein schreckliches Feuer entfacht, das einen ganzen Stadtteil (Borgo) zu zerstören drohte. In dieser kritischen Situation gelang es Papst Leo IV. durch einen wundertätigen Segen die Katastrophe zu verhindern.

Aus heutiger Sicht mag es überraschen, dass die dramatische Feuerszene im Laufe der Jahrhunderte bei den Graphikern nur wenig Interesse fand. Weniger als fünf Reproduktionen sind bis 1850 nachweisbar. Nach einem frühen, wohl nach einer variierenden Vorzeichnung Raffaels angefertigten Kupferstich von Marco Dente (Anm. 2) folgten im 18. Jahrhundert zwei Reproduktionen, von denen diejenige von Francesco Aquila zwar relativ genau, aber angesichts des bedrohlichen Ereignisses allzu spannungsarm ausfällt, während Paolo Fidanzas Radierung künstlerisch kaum überzeugen kann. Die eigentliche Sichtbarmachung von Raffaels Meisterwerk gelang Giovanni Volpato 1783. (Anm. 3) Erst seine Darstellung wurde mit ihrer starken Betonung von Hell-Dunkel-Effekten und mit einer plastischen Herausarbeitung der Figuren Raffaels dramatischer Komposition gerecht. Volpatos Wiedergabe ist in ihrer Wirkung weniger linear als malerisch, was ihre Akzeptanz beim Publikum sicher erleichterte. Diese Druckgraphik erlangte wie die anderen Blätter von Volpatos Serie von Stanzen-Darstellungen denn auch große Popularität (zur Serie vgl. Inv.-Nr. 1915-92). Interessanterweise verzichtete Volpato auf jegliche Titelangabe oder Erläuterung. Offenbar wurde die Kenntnis des für das Papsttum wichtigen Ereignisses vorausgesetzt, oder, was wahrscheinlicher ist, ging es vor allem um die Wiedergabe eines künstlerischen Meisterwerks. Raffael schildert den Borgo-Brand, nach dem der ganze Raum als Stanza dell’Incendio (= des Feuers) benannt wurde, mit einem Höchstmaß an Anschaulichkeit. Er interessiert sich vor allem für die Auswirkungen der Katastrophe auf die Menschen. Er zeigt ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit, ihre Angst, aber auch ihr Gottvertrauen. Raffael gelingt es, mit höchst einprägsamen Bildfindungen das Mitleid des Betrachters zu wecken. Verblüffend ist, dass die päpstliche Wundertat erst bei genauem Hinsehen im Hintergrund erkennbar ist. Dort sieht man Leo IV. auf der sog. Benediktionsloggia von Alt-St. Peter den Segen spendend. Raffael unterläuft auf diese Weise die beabsichtigte Bildpropaganda des Papstes, was aber offensichtlich kein Missfallen erzeugte. Erst auf den zweiten Blick ist zudem erkennbar, dass das Feuer im Vordergrund links den Brand von Troja zeigt und dass dort Aeneas seinen schwachen Vater Anchises vor den Flammen rettet. Auf diese Weise wurde
der Ahnherr Roms – wie Papst Leo – als Retter und Beschützer vor Augen geführt.

In der Rückschau ist es gleichermaßen irritierend wie faszinierend, wie grundlegend Raffael seine Kompositionen innerhalb weniger Jahre veränderte. Der Borgo-Brand ist nur knapp vier Jahre nach der Schule von Athen entstanden, und doch trennen beide Werke Welten. Dort klassische Ausgewogenheit, hier eine offene Form ohne Zentrum, dort Ruhe und Harmonie, hier Dynamik und Chaos.
David Klemm

1 Zum religionspolitischen Programm des Raumes vgl. Höper 2001, S. 407; Kliemann/Rohlmann 2004, S. 137–142; zum Borgo-Brand vgl. ebd., S. 140–141.
2 Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 54–55, Nr. I.1.
3 1783 übergab Volpato Pius VI. zu dessen Freude zwei vollendete Drucke vom Borgo-Brand und vom Parnass; vgl. Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 130.


Abgekürzt zitierte Literatur.
Kliemann/Rohlmann 2004
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Details zu diesem Werk

Radierung und Kupferstich 572mm x 752mm (Platte) 667mm x 956mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 3092d Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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