Marcantonio Raimondi, Stecher
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Erfinder

"Quos Ego" - Neptun bändigt den Sturm, den Aeolus gegen die Flotte Aeneas geschickt hat, um 1515

Aeneas gewann als sagenhafter Stammvater Roms in der am Altertum besonders interessierten Renaissance zunehmend an Wertschätzung. (Anm. 1) Sein ereignisreiches Leben war durch Homer und Vergil überliefert worden und damit den Humanisten und Gebildeten bestens vertraut. Raffael hatte bereits um 1514 in einer eindrucksvollen Komposition gezeigt, wie Aeneas heldenhaft seinen schwachen Vater Anchises aus dem brennenden Troja rettet (Inv.-Nr. 3092d). Wenig später reifte in ihm der Plan, die Erlebnisse des Aeneas in umfassenderer Form darzustellen. Das Ergebnis zeigt der nach Entwürfen Raffaels von Marcantonio Raimondi ausgeführte Kupferstich Quos Ego. Er darf als eine der besten Leistungen in der Zusammenarbeit der beiden Künstler genannt werden. Das zentrale Bild zeigt eine der Schlüsselszenen der Irrfahrten des Aeneas. (Anm. 2) Dieser war auf der Flucht in einen heftigen Sturm geraten, der durch den Windgott Aeolus auf Befehl der Juno entfacht worden war. Verzweifelt bittet Aeneas – kaum erkennbar im Hintergrund links – um göttlichen Schutz. Zu Hilfe eilt ihm Neptun, der mit Vehemenz die entfesselten Winde in ihre Schranken verweist und damit die Weiterfahrt des Aeneas ermöglicht. Vergils Beschreibung, dass der Meeresgott eigentlich auch die Winde zerstören wollte, dann aber davon abließ („Quos Ego –…“), gab der Graphik ihren Namen. Um diese Hauptszene herum sind neun weitere, z. T. durch Inschriften erläuterte Darstellungen aus dem ersten Buch der Aeneis angeordnet. (Anm. 3) Das Blatt ist nicht datiert und weist auch keinen Hinweis auf die Autorschaft auf. Seit Vasari und für die gesamte ältere Literatur gilt Raffael als Entwerfer. Hierfür sprechen zum einen die hohe Qualität und stilistische Elemente der Gesamtkomposition sowie das antiquarische Interesse; zum anderen überliefern mehrere Zeichnungen, z. T. in Form von Kopien, einige Ideen des Künstlers für diesen Stich. (Anm. 4) Eindeutig greift Raffael bei seiner szenenartigen Darstellung auf römische Reliefs zurück, wie sie beispielsweise die sog. Tabula iliaca aufweist. (Anm. 5) Denkbar sind aber auch Anregungen aus der Buchmalerei, etwa durch den sog. Codex Virgiliano Romano. (Anm. 6) Im Vergleich zum Urteil des Paris (Inv.-Nr. 246), der zweiten Komposition Raffaels all’antica, zeigt Quos Ego im Aufbau eine größere Strenge und Klarheit. (Anm. 7) Von großartiger Ausdruckskraft sind Neptun und dessen Pferde, die in ihrer Bewegtheit barocke Dynamik aufweisen. Dagegen wirken einige Figuren auf den Reliefs fast schablonenhaft, was allerdings die Lesbarkeit der Szenen erhöht. Die Entstehung des Kupferstichs lässt sich anhand von 1516 datierten Kopien einiger Szenen durch Giovanni Antonio da Brescia eingrenzen. (Anm. 8) Hierzu passt, dass Marcantonio Raimondi um 1515 seine Stichtechnik systematisierte und dazu überging, stärkere atmosphärische Helldunkel-Effekte zu entwickeln. (Anm. 9) Hier – wie auch in den etwa zeitgleichen Kupferstichen Die Pest auf Kreta, gen. Il Morbetto (Inv.-Nr. 328) oder die Hl. Cäcilie (Inv.-Nr. 202) – findet sich eine feine und dichte Linienführung, die in guten Abzügen, vor allem in dunklen Partien beim Neptun, eine geradezu körnige Textur erzeugt. (Anm. 10) Bei der Meeres- und Wolkenbildung ist der Einfluss von Albrecht Dürer, etwa von dessen Meerwunder oder der Apokalypse, zu spüren. (Anm. 11) Das Blatt ist in seiner kleinteiligen Komplexität für Raffael ungewöhnlich. Es wurde vorgeschlagen, dass es als Titelblatt für eine Aeneis-Ausgabe gedacht gewesen sei. Dies erscheint allerdings aufgrund der Größe des Blattes und der Inschriften nicht zwingend. (Anm. 12) Angedacht wurde auch, dass das Blatt Teil einer umfangreicheren Folge mit Illustrationen zur Aeneis darstellte – hierzu zählten dann auch Das Urteil des Paris (Inv.-Nr. 246), Entellus und Dares (Inv.-Nr. 500) oder der Laokoon. Dagegen sprechen allerdings die eher unterschiedlichen Blattgrößen. (Anm. 13) Wenn somit auch die genaue Funktionsbestimmung offen bleibt, stellt Quos Ego dennoch ein beeindruckendes Zeugnis der antiquarischen Interessen Raffaels dar. (Anm. 14)
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 264, Nr. 352; Ausst.-Kat. Mantua/Wien
1999, S. 114–115, Nr. 53; Höper 2001, S. 204–205, Nr. A 89.1; Knaus 2016, S. 38–
43; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 52–53, Nr. 3; Ausst.-Kat. Rom 2020, S. 175–177,
Kat.-Nr. IV.17 (Beitrag Vincenzo Farinella)

1 Eine intensive Beschäftigung mit der Aeneis lässt sich für den mit Raffael eng vertrauten Humanisten Pietro Bembo nachweisen, vgl. Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 52.
2 Vergil, Aeneis Buch 1, 124–141.
3 Es beginnt mit der Vorgeschichte im Götterhimmel und endet mit dem schicksalhaften Bankett in Karthago, bei dem sich Dido in Aeneas verliebt. Oben links: Juno bitte Aeolus, das Meer aufzuwühlen; oben in der Mitte: Venus wendet sich an den im Zodiakus (Sternkreiszeichen) sitzenden Jupiter. Dieser schickt Merkur auf die Erde; oben rechts: Venus wendet sich an Amor; in der Mitte links: unterhalb davon: Aeneas und die Trojaner nach dem Sturm am Strand; Aeneas und Venus treffen die als Jägerin verkleidete Venus, Schwäne deuten auf die Rückkehr der Flotte; unten links: Aeneas und Achates betrachten die Bilder des Trojanischen Krieges im Juno-Tempel von Karthago; in der Mitte rechts Ilioneus und die Trojaner vor Dido; unterhalb davon: Dido führt Aeneas zum Gastmahl; unten rechts: das Mahl mit dem als Cupido verkleideten Ascanius.
4 Wichtig für die Zuschreibung des Entwurfs an Raffael sind u. a. zwei Zeichnungen in Chatsworth, die Nebenszenen des Quos Ego wiedergeben. Vgl. Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, S. 609–610, Nrn. 536–538. Sie sind nicht zuletzt aufgrund der partiell schlechten Erhaltung in der Zuschreibung nicht unumstritten. Gnann plädiert in Anlehnung an Gere und Turner für eine Autorschaft Raffaels für die besser erhaltene Szene Ilioneus und die Trojaner vor Dido und führt dafür auch überzeugende stilistische Indizien an; vgl. Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 115. Knaus rückt dagegen beide Blätter in Chatsworth in Richtung Raimondi, was im Fall der Szene Dido führt Aeneas zum Bankett vorstellbar wäre; vgl. Knaus 2016, S. 38–43, wobei dort allerdings Text und Bildunterschriften unterschiedliche Zuschreibungen zu den Zeichnungen aufweisen. Es fragt sich aber, warum Raimondi bei der Szene Ilioneus und die Trojaner vor Dido eine zum Stich seitengleiche Vorzeichnung angefertigt haben sollte. Diese hätte dann von ihm nochmals gespiegelt werden müssen. Zudem ist zwar grundsätzlich richtig, dass Kreuzschraffuren von Kupferstechern auf ihren Graphiken verwendet werden, das schließt aber nicht aus, dass die Entwerfer von Vorzeichnungen auch Kreuzschraffuren anlegen. Die auf der Szene Ilioneus und die Trojaner vor Dido verwendeten Kreuzschraffuren müssen demnach nicht zwingend von Raimondi stammen. Gnann weist im Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 115 explizit auf ein Beispiel von Raffael hin, bei dem dieser in einem Entwurf Kreuzschraffuren verwendete. Unabhängig davon ist wohl unbestritten, dass die Autorschaft für die diversen Szenen von Quos Ego auf Raffael zurückgehen dürfte. Unabhängig von dieser Debatte ist die als Beleg für Raffaels Autorschaft angeführte Ähnlichkeit zwischen der Neptungruppe und der Vision Hesekiels im Palazzo Pitti in Florenz nicht stichhaltig; vgl. Shoemaker 1981, S. 120.
5 Vgl. Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 175–176, Nr. IV.18 und Abb. S. 166.
6 Ausst.-Kat. Rom 2020a, S. 176. Die Datierung von Raimondis Stich ergibt sich auch aus Kopien einzelner Szenen durch Giovanni Antonio da Brescia; vgl. Höper 2001, S. 204–205; Gramaccini/Meier 2009, S. 139, Nr. 28.
7 Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 115.
8 Bloemacher 2016, S. 252 und S. 253, Abb. 197.
9 Shoemaker 1981, S. 120
10 Die Helldunkel-Effekte finden sich besonders eindrucksvoll auf dem Körper von Neptun, der von den Blitzen schlaglichtartig beleuchtet wird.
11 Ebd.
12 Den Vorschlag brachte Delaborde 1888, S. 186–188, auf; vgl. Höper 2001, S. 205.
13 Möglicherweise stellen die Aeneis-Illustrationen auch eine Antwort auf eine 1502 in Straßburg erschienene, reich illustrierte deutsche Vergil-Ausgabe dar; Ausst-Kat. Rom 2020a, S. 176.
14 Die Komposition entfaltete eine reiche Wirkung; vgl. etwa die seitenverkehrte Kopie von Giovanni Antonio da Brescia nach der zentralen Gruppe; vgl. Gramaccini/Meier 2009, S. 139, Nr. 28; vgl. auch Höper 2001, S. 205.

Details zu diesem Werk

Kupferstich 419mm x 320mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 296 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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