Marcantonio Raimondi, Stecher
Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Zeichner, Erfinder

Das Urteil des Paris, um 1515

Wie kein zweites Werk steht der großformatige Kupferstich Das Urteil des Paris für die kongeniale Zusammenarbeit zwischen Raffael und Marcantonio Raimondi. Gemeinsam schufen die beiden Künstler ein Meisterwerk der Druckgraphik, das mit vielfältiger Erfindungskraft, packender Erzählweise und technischer Brillanz seit Jahrhunderten Bewunderung auslöst und inspirierend wirkt. Die Komposition zeigt den entscheidenden Augenblick in dem wohl berühmtesten Schönheitswettbewerb des Altertums. (Anm. 1) Gerade reicht Paris der Venus den goldenen Apfel und vom Himmel schwebt Victoria heran, um die Siegerin mit einem Kranz zu bekrönen. Rechts von Venus sieht man Minerva, den Betrachtenden den Rücken zuwendend und links von ihr befindet sich etwas im Hintergrund die ebenfalls unterlegene Juno mit dem Pfau. Um diese Hauptgruppe herum zeigt die Darstellung noch eine Vielzahl weiterer Personen, die nur teilweise direkt mit dem Wettstreit zu tun haben. So lagern etwa am linken und rechten Bildrand Najaden und Flussgötter. In der Himmelszone schwebt rechts der vom Windgott Aeolus getragene Jupiter heran, während links davon Kastor und Pollux und der Sonnengott Sol mit dem Pferdespann ihre Bahnen ziehen. Diese komplexe Darstellung beruhte auf einer konkreten Vorzeichnung Raffaels, die sich allerdings nicht erhalten hat. Dennoch ist dessen Autorschaft durch einen Hinweis von Giorgio Vasari (Anm. 2), durch einen Vermerk auf dem Kupferstich sowie durch künstlerische Bezüge zu seinem Werk unzweifelhaft. (Anm. 3) Raffael selbst holte sich wesentliche Anregungen von antiken Sarkophagen, die sich heute in der Villa Medici und im Palazzo Doria Pamphilj befinden. (Anm. 4) Dabei übernahm er kompositionelle Elemente, gab den Figuren aber die Möglichkeit räumlicher Entfaltung. Ein wesentlicher Unterschied besteht auch darin, dass die drei Göttinnen erst durch Raffael ihre vollständige Nacktheit erhielten. Entsprechend dem auf dem Kupferstich vermerkten Motto „Schönheit siegt über Tugend, Klugheit und Reichtum“ feiert Raffael den menschlichen Körper in all seinen Erscheinungsformen. (Anm. 5) Man gewinnt den Eindruck, als ob der Künstler bewusst viele Personen auf der Komposition vereinte, um dadurch umso mehr Positionen, Wendungen und Haltungen darstellen zu können. Und dies gilt nicht nur für weibliche, sondern sehr wohl auch für männliche Körper. Raffaels Komposition entstand sicherlich auch in der Auseinandersetzung mit einem so großen Vorbild wie Michelangelos Karton zur Schlacht von Cascina, bei der allerdings nur (weitgehend) nackte Männer dargestellt worden waren. Das wohl um 1515 (Anm. 6) entstandene Blatt verfügt über einen besonders bei frühen Drucken erkennbaren samtigen Grundton. Diesen Effekt erzielte Raimondi, indem er die Platte weitgehend mit einer Art Bimsstein aufraute und nur die Stellen polierte, die weiß bleiben sollten. Mit diesem Verfahren wurden die vielteiligen Kompositionselemente zusammengebunden. Dieser malerische Stil wurde von Marcanton mit einer speziellen Modelliertechnik kombiniert. Hierfür setzte er den Grabstichel sehr variationsreich ein, wodurch im Ergebnis stark skulpturale Körper entstanden. (Anm. 7) Wie kaum eine andere Komposition Raffaels entfaltete das Urteil des Paris eine eminente künstlerische Wirkung (vgl. auch S. 40). (Anm. 8) Bereits im 16. Jahrhundert erschienen ein Nachstich von Marco Dente (Anm. 9) sowie Einzelfiguren, auch zeitgenössische Majoliken verwendeten Motive. Édouard Manet ließ sich 1863 von der rechts lagernden Gruppe zu seinem Skandalbild Das Frühstück im Grünen (Le Déjeuner sur l’herbe) inspirieren, und auch zahlreiche andere Künstler wie Edgar Degas oder Pablo Picasso setzten sich intensiv mit dem Werk auseinander.
David Klemm

Bartsch XIV (1813), S. 197, Nr. 245; Shoemaker 1981, S. 146–147,
Nr. 43; Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 242, Nr. II.1;
Landau/Parshall 1994, S. 123–131; Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 94, Nr. 33
(Beitrag Achim Gnann); Gramaccini/Meier 2009, S. 155–156, Nr. 65 (Beitrag
Hans Jakob Meier); Knaus 2016, S. 36–37; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 50–51, Nr.
2; Ausst.-Kat. Rom 2020, S. 315, Nr. VII.13 (Beitrag Vincenzo Farinella)

1 Die drei Göttinnen Minerva, Juno und Venus stritten darüber, wer die schönste Frau im Olymp sei. Das Urteil sollte der Hirte Paris treffen, der sich letztlich für Venus, die Göttin der Schönheit, entschied. Diese hatte ihm als Belohnung Helena, die schönste sterbliche Frau, versprochen. Als Paris später Helena gewaltsam ihrem Ehemann Menelaos raubte, führte dies zum Trojanischen Krieg mit all seinen weitreichenden Folgen.
2 Vasari spricht eindeutig davon, dass Raimondi nach einer von Raffael vorgelegten Zeichnung gearbeitet habe; vgl. Knaus 2016, S. 37.
3 Zu den im Zusammenhang mit der Kompositionen stehenden Zeichnungen und Kopien vgl. Landau/Parshall 1994, S. 125–128; Knaus 2016, S. 37, Anm. 29. Raffael hatte sich schon in einem kleinen Basrelief unterhalb der Parnass Szene in der Stanza della Segnatura mit dem Thema befasst. Dort ist die Begegnung von Paris und Venus bereits ähnlich angelegt, wohingegen die beiden unterlegenen Göttinnen deutlich abseits stehen. Vgl. Frommel 2017, Abb. 26b.
4 Bober/Rubinstein 1987, S. 161–162, Nr. 119–120.
5 Gramaccini/Meier 2009, S. 155.
6 Seit langem wird die Frage der Datierung von Entwurf und Ausführung des Paris-Urteils intensiv diskutiert. Ausgehend von Vasaris Bemerkung, dass Raffael die Komposition sehr früh, also um 1509/10, angefertigt habe, wurden von verschiedenen Autoren Datierungen der Ausführung bis 1520 vorgeschlagen. Sicher scheint, dass die hoch entwickelte Technik Raimondis Vasaris Behauptung widerlegt, das Paris-Urteil zähle zu dessen frühesten römischen Werken. Der Stil ist aber auch weit entfernt vom um 1520 anzusetzenden Spätwerk, das durch eine wesentlich trockenere, eher akademische Ausführung charakterisiert ist. Eine Datierung des Kupferstichs um 1515 scheint daher denkbar. Schwer zu datieren ist auch die Komposition an sich. Nimmt man Raffaels kleine Darstellung des Paris-Urteils in den Stanzen (vgl. Anm. 3), dann könnte man von einer Entstehung nach 1511 ausgehen. Allerdings ist die Komposition in ihrer auffallenden Unausgewogenheit weit von der ‚klassischen Ordnung’ der Stanza della Segnatura entfernt. Dies sowie das auffallende Interesse an der Antike wie auch die Beschäftigung mit dem Gründungsmythos von Rom rückt das Urteil in die Nähe der Kupferstiche Quos Ego und Die Pest auf Kreta, gen. Il Morbetto, die beide um 1515 angesetzt werden können; vgl. Kat. 3, 4.
7 Vgl. Gramaccini/Meier 2009, S. 155–156.
8 Gramaccini/Meier 2009, S. 156.
9 Der Nachstich war notwendig geworden, weil die Kupferplatte mit Raimondis Stich aufgrund der großen Nachfrage abgenutzt war. Dentes sehr gute Reproduktion ist genau, wenn auch technisch einfacher ausgeführt. So verzichtete er etwa auf die Aufrauung der Platte; vgl. Gramaccini/Meier 2009, S. 156, Nr. 68 (Beitrag Hans Jakob Meier)

LIT (Auswahl): Bartsch XIV (1813), S. 197, Nr. 245; Ausst.-Kat. Lawrence/Chapel Hill/Wellesley 1981S. 146–147, Nr. 43; Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 242, Nr. II.1; Landau/Parshall 1994, S. 123–131; Ausst.-Kat. Mantua/Wien 1999, S. 94, Nr. 33 (Beitrag Achim Gnann); Gramaccini/Meier 2009, S. 155–156, Nr. 65 (Beitrag Hans Jakob Meier); Knaus 2016, S. 36–37; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 50–51, Nr. 2; Ausst.-Kat. Rom 2020, S. 315, Nr. VII.13 (Beitrag Vincenzo Farinella)

Abgekürzte Literatur:
Knaus 2016
Gudrun Knaus: Invenit, Incisit, Imitavit. Die Kupferstiche von Marcantonio Raimondi als Schlüssel zur weltweiten Raffael-Rezeption 1510-1700, Berlin/Boston 2016

Details zu diesem Werk

Kupferstich 292mm x 435mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 246 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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