Carlo Maratta (Maratti), Radierer
nach Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio, Maler, Erfinder
und Raffael (Werkstatt), Maler

Die Vertreibung des Heliodor, vor 1660

Die Stanza di Eliodoro war der zweite päpstliche Raum, den Raffael in Rom ausmalte. In diesem wohl für Audienzen genutzten Zimmer sollten die zwischen 1511 und 1514 entstandenen Wandbilder die Macht der Kirche und ihrer Vertreter über Feinde, Ungläubige und Zweifler veranschaulichen. Gezeigt wurden nicht mehr Allegorien, wie in der benachbarten Stanza della Segnatura, sondern historische Szenen. Das Programm war allgemein gehalten, konnte aber auch auf tagespolitische Ereignisse übertragen werden.

Besonders eindrücklich sieht man dieses selbstbewusste Vorgehen auf dem für den Raum namensgebenden Wandbild mit der Vertreibung des Heliodor. Im 2. Buch der Makkabäer 3, 23–29 wird berichtet, dass Heliodor, der Schatzkanzler des syrischen Königs, die im Tempel von Jerusalem aufbewahrten Gelder der Witwen und Waisen rauben wollte. Daraufhin wurde er durch einen vom Himmel gesandten Reiter und zwei Engel vertrieben und letztlich bekehrt. Die Szene konnte als Warnung für die französischen Truppen verstanden werden, die während der Regentschaft von Julius II. Teile des Kirchenstaats besetzt hielten. Dies wurde auch dadurch unterstrichen, dass sich der Papst persönlich als Zeuge der Bestrafung Heliodors darstellen ließ.

Dieses kirchenpolitisch aufgeladene Werk fand lange Zeit keinerlei Interesse bei den Reproduktionsgraphikern. (Anm. 1) Vielleicht lag dies an Raffaels formaler Lösung, die mit ihrer antiklassischen Unruhe und Dezentralisierung der Hauptszene überrascht.

Es dauerte offenbar bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, ehe eine vollständige Darstellung des Bildes verfügbar war. Dabei handelt es sich um eine Radierung, deren stattliches Format den Druck von zwei Platten erforderte. Urheber war Carlo Maratta, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten römischer Maler avancierte. Maratta verfügte über eine ausgeprägte Affinität zu Raffael, dessen formaler Einfluss sich vielfach in seinem Schaffen aufzeigen lässt (Inv.-Nr. kb-1863-85-138-2). (Anm. 2.) Um 1700 übernahm der Künstler auch die ehrenvolle Aufgabe der Restaurierung der Fresken im Vatikan und in der Farnesina. Dennoch bleibt unklar, warum sich Maratta gerade das seinem eigenen Kunststil eher widersprechende Heliodor-Bild für eine anspruchsvolle Reproduktion auswählte. Denkbar ist, dass er die bestehende Lücke in der graphischen Überlieferung schließen wollte. Vielleicht diente die wohl in der Frühzeit des Künstlers vor 1660 entstandene Radierung auch vorrangig dem Broterwerb. (Anm. 3) Hierauf könnte auch die aufwendige Widmung an den aus Cortona stammenden Dichter und Sammler Niccolò Baldelli hindeuten.

Maratta gelang eine lebendige Wiedergabe der Komposition, doch zeigen sich bei genauerer Betrachtung einige eher unbeholfen wirkende Elemente und vor allem zahlreiche Ungenauigkeiten. Dies führte dazu, dass Raffaels Komposition in vielen Details verunklärt und verschlechtert wurde. (Anm. 4) Folgenreich für die Bildwirkung sind auch Veränderungen, etwa des Bodenmusters, sowie mehrere Dynamisierungen, vor allem der Gewänder. So wirken die beiden fliegenden Engel in der Graphik deutlich schwerer als auf dem Wandbild, was der beabsichtigten Darstellung des Fliegens entgegensteht. Einen starken Eingriff bedeutet letztlich die seitenverkehrte Wiedergabe, da sie den Schwerpunkt der Komposition nach links verlagert und damit gegen die für Europäer gewohnte Leserichtung stellt.

Derartige Kritikpunkte standen bei den Graphikkennern des 17. und 18. Jahrhunderts offenbar jedoch nicht im Vordergrund. Denn Marattas Radierung fand wiederholt Anerkennung, etwa von Gori Gandellini, der 1808 bemerkte, dass sie hervorragend gezeichnet („disegnata eccellente“) sei. (Anm. 5) Zeigen diese unterschiedlichen Einschätzungen den Wandel von Bewertungskriterien, so bleibt es unstrittig Marattas Verdienst, mit seiner heute offenbar seltenen Radierung dieses wichtige Werk Raffaels erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt zu haben.
David Klemm

LIT (Auswahl): Bartsch XXI (1821), S. 94, Nr. 13; Bellini 1977, S. 72–73, Nr. 13;
Höper 2001, S. 197–198, Nr. F 8.1 (mit älterer Lit.); Ausst.-Kat. Brescia 2020,
S. 104–105, Nr. 31

1 Vgl. Bernini Pezzini/Massari/Prosperi Valenti Rodinò 1985, S. 46–47; Höper 2001, S. 397–400.
2 Zum Verhältnis Raffael-Maratta vgl. Mena Marqués 1990, S. 541–564.
3 Zur Datierung vgl. Bellini 1977, S. 15; Ausst.-Kat. Brescia 2020, S. 104. Marattas graphisches OEuvre umfasst 19 gesicherte Blätter, von denen immerhin fünf nach älteren Meistern wie Annibale und Lodovico Carracci, Domenico Cerrini und Domenichino stammen. Innerhalb dieser Gruppe nimmt das Heliodor-Blatt nach Raffael als größte Druckgraphik einen besonderen Platz ein; vgl. Bellini 1977.
4 Man beachte z. B. die Kopfbedeckung des Papstes.
5 „la stampa e rara e bella, perchè disegnata eccellentemente“. Auch Mariette lobte das Blatt: „avec tout l’art et tout l’esprit possibles“; Gori Gandellini zit. Nach Höper 2001, S. 398, bei Nr. F 8.1.

Details zu diesem Werk

Radierung 521mm x 866mm (Bild) 550mm x 873mm (Platte) 570mm x 888mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 2431 Sammlung: KK Druckgraphik, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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