Anonym (niederländisch, 17. Jh.)
Gerard van Honthorst (auch gen. Gheraldo delle Notti), ehemals zugeschrieben

Männlicher (?) Kopf, halb nach rechts gewandt

Harzen inventarisierte das Blatt unter dem Namen Balthasar Denners (1685–1749) und dachte dabei wohl an dessen Porträtstudien auf blauem Papier.(Anm.1) Die stilistische Nähe ist jedoch nur marginal, und so erscheint die Zuordnung zur niederländischen Schule grundsätzlich sinnvoll. In der Modellierung des Gesichts, dem großen Format und der Verwendung blauen Papiers bestehen Verwandtschaften zu einem gezeichneten „Selbstporträt“ des Carel de Moor (1655–1738).(Anm.2) Peter Schatborn sah eine gewisse Nähe zu Zeichnungen des Albert Eckhout (um 1610–1663/67),(Anm.3) Rudi Ekkart wiederum assoziierte das Blatt mit Sir Gottfried Kneller (1646–1723), dessen Porträtzeichnungen jedoch deutlich entschiedener und großzügiger gearbeitet sind.(Anm.4) Näher steht unserem Blatt eine Zeichnung, die dem schwedischen Porträtisten und Kneller-Rivalen Michael Dahl (1656/59–1743) zugeschrieben wird.(Anm.5)
Warum die Zeichnung zuletzt unter dem Namen des Gerrit van Honthorst verwahrt wurde, ist nicht festzustellen. Ein direkter Bezug zu dem gemalten oder gezeichneten Œuvre dieses Künstlers besteht nicht.(Anm.6) Auch die traditionelle Deutung als weibliches Porträt im Sinne Harzens, der das Blatt als „Kopf einer Matrone von mildem und gütigem Character“ beschrieb, ist nicht länger aufrecht zu erhalten. Viel eher charakterisiert das wohl mit einem Haarband zurückgehaltene, für eine Frau zu kurze Haar im Zusammenspiel mit den massigen Zügen ein männliches Phantasieporträt, entstanden vielleicht im Kontext mit einem biblischen oder mythologischen Thema.(Anm.7)

Annemarie Stefes

1 Vgl. die bei Peter Prange: Deutsche Zeichnungen 1450-1800. Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle Kupferstichkabinett, 2 Bde., Köln u.a. 2007 unter Nr. 189–192 aufgeführten Zeichnungen in der Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. 43956, Inv.-Nr. 43958, Inv.-Nr. 43973 und Inv.-Nr. 43974.
2 Aukt.-Kat. Köln, Lempertz, 21. 5. 2005, Nr. 876 (schwarze und weiße Kreide auf blauem Papier, 360 x 254 mm).
3 Mündliche Mitteilung vom 16. 5. 2009 auf Grundlage einer Digitalphotographie. Vgl. „Bildnis eines Tapuya-Indianers“ in Krakau, Biblioteka Jagiellonska (Rötel, schwarze und weiße Kreide, 218 x 166 mm), Quentin Buvelot: Albert Eckhout. A Dutch Artist in Brazil, Ausst.-Kat. Den Haag, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis, Zwolle 2004, Abb. 15.
4 Mündliche Mitteilung vom 13. 5. 2009 auf Grundlage einer Digitalphotographie. Die Unterschiede zu Kneller zeigen sich insbesondere in der Wiedergabe der Haare, z. B. „Porträt des Henry Aldrich“, 1696, Oxford, Ashmolean Museum, Inv.-Nr. WA 1934.412, Stewart 1983, Nr. 96 a. Eine gewisse physiognomische Ähnlichkeit besteht allenfalls zu dem gemalten „Porträt des Sebastiano Bombelli“, 1675, Udine, Museo Civico, ebd., Nr. 102.
5 „Bildnis des Edward Harley, 2nd Earl of Oxford“, London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1885,0509.1670, Drawing in England from Hilliard to Hogarth, bearb. von Lindsay Stainton und Christopher White, Ausst.-Kat. London, British Museum, New Haven, Yale Center for British Art, 1987, Nr. 165.
6 Ungleich freier gearbeitet ist die „Studie eines weiblichen Kopfes“ in Dresden, Staatliche Kunstsamm-lungen, Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. C 1180, J. Richard Judson, Rudolf E. O. Ekkart: Gerrit van Honthorst, Doornspijk 1999, Nr. D 57. Zu den gemalten Porträts und Figuren des Künstlers konnte kein Bezug hergestellt werden, allenfalls zu dem „Bildnis einer alten Dame“, 1638, Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Inv.-Nr. 2543, J. Richard Judson, Rudolf E. O. Ekkart: Gerrit van Honthorst, Doornspijk 1999, Nr. 502.
7 In der Photokartei des RKD wird das Blatt unter den anonymen Männerbildnissen rubriziert. Für eine Deutung als männlicher Kopf plädierte auch Peter Schatborn (mündliche Mitteilung vom 16. 5. 2009 auf Grundlage einer Digitalphotographie).

Details zu diesem Werk

Schwarze und weiße Kreide auf blaugrauem Papier 290mm x 188mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 22811 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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