Peter Paul Rubens, Werkstatt

Das Urteil Salomons, um 1629

Über das „salomonische Urteil“ berichtet die Bibel im 1. Buch der Könige 3, 16–28: Zwei Huren hatten zur selben Zeit einen Sohn geboren, doch wurde eines der Kinder von der Mutter im Schlaf erdrückt. Beide erhoben Anspruch auf den überlebenden Säugling, aber nicht beide sprachen die Wahrheit. Der König Salomo ermittelte die rechtmäßige Mutter, indem er befahl, das lebende Kind mit dem Schwert in zwei Hälften zu teilen. Daraufhin wollte die wahre Mutter das Kind lieber der Gegnerin überlassen als es sterben zu sehen.
Harzens Beschreibung der in der Literatur bislang unbeachteten Zeichnung (Anm.1) enthält im Kern bereits die wesentlichen Aussagen über Bestimmung und Bezug dieser Arbeit. Tatsächlich diente das gegriffelte Blatt als „modello“ für die mit 440 x 510 mm annähernd maßgleiche Radierung des Boëtius Adamsz. Bolswert (um 1580–1633).(Anm.2) Die seitengleiche Ausrichtung erlaubte in beiden Fällen einen der Leserichtung folgenden Bildaufbau und gewährleistete darüber hinaus die Rechtshändigkeit der Akteure. Zu diesem Zweck wurde der Entwurf zunächst durch eine Pause gespiegelt und anschließend von dieser auf die Platte übertragen.(Anm.3) Dieses aufwändige Verfahren war außergewöhnlich: Nur fünf der 57 mit Privileg versehenen Stiche nach Rubens erschienen seitengleich mit der gemalten Ausgangskomposition.(Anm.4)
Als Vorlage für Zeichnung und Reproduktionsstich nannte Harzen ein Gemälde in Kopenhagen.(Anm.5) Dessen Status als eigenhändiges Werk wurde jedoch in der neueren Literatur in Frage gestellt: Viel eher geht es zurück auf ein um 1615/17 anzusetzendes, wohl 1695 durch Feuer zerstörtes Gemälde im Brüsseler Rathaus – auf dieses beziehen sich Zeichnung und Druck.(Anm.6) Als Dokument des verlorenen Originals ist das Kopenhagener Bild gleichwohl aufschlussreich. Die in der Gegenüberstellung mit Zeichnung und Stich zu beobachtenden Abweichungen scheinen charakteristisch zu sein für das Vorgehen der Rubensstecher.
Zeichnung und Radierung erweitern die gemalte Komposition um den Ausblick durch einen Rundbogen; die Seitenfiguren werden vollständiger wiedergegeben. Abwei-chungen von der gemalten Fassung finden sich im Detail: der Drapierung des Leichentuchs, dem Brusttuch der knienden Mutter, dem Löwenkopf an der Armlehne des Thrones und der Beinstellung des stehenden Mannes links. Nicht in jedem Bereich stimmen Radierung und Zeichnung vollständig miteinander überein: Auf dem Druck ist das Muschelornament an Salomons Thron aufwändiger gestaltet, und die gegriffelten Konturen der rechten Sandale des barhäuptigen Mannes links wurden vom Stecher übernommen, bei jedoch abgeänderter Binnenzeichnung.(Anm.7) Ein ähnliches Verhältnis zwischen Vorlagentreue und Abweichung lässt sich beobachten zwischen einem Reproduktionsstich des Paulus Pontius (1603–1658) und seinem um 1622 von Rubens gemalten Modell („Königin Tomyris mit dem Haupt des Cyrus“).(Anm.8) Auch dort vermittelt eine gezeichnete Stechervorlage zwischen Bild und gedruckter Fassung. Diese kommt, abgesehen von der kühleren Farbwirkung, in ihrem Erscheinungsbild dem Hamburger Blatt recht nahe; sie wird, ausgehend von dem in diesem Jahr publizierten Pontius-Stich um 1630 datiert.(Anm.9) Ein ähnlicher zeitlicher Ansatz ist für das Hamburger Blatt anzunehmen. Bolswerts „Salomonsurteil“ ist der erste von fünf Stichen nach Rubens. Mit seinem Eintritt in die Rubenswerkstatt 1629 ist ein Terminus post quem gegeben.(Anm.10)
Damit ist die Frage nach der Autorschaft der Zeichnung noch nicht beantwortet. Die Stechervorlage zu Pontius’ „Königin Tomyris“ gilt als Gemeinschaftsarbeit von Rubens und einem Assistenten. Auch für das Hamburger Blatt wäre die Hand eines Werkstattgehilfen in Betracht zu ziehen, wenn es sich nicht sogar um ein Werk des Stechers handelt.(Anm.11) Die durch farbige Übermalung größtenteils überdeckte, mit Feder überarbeitete Ausgangskomposition in Kreide wirkt in jedem Fall zu gleichmäßig, um Rubens selbst zugeschrieben werden zu können. Lediglich die schwungvoll gesetzten Weißhöhungen im Zentrum der Komposition (Henker, kniende Mutter) könnten von Rubens selbst hinzugefügt worden sein. Sie liegen über den Griffelspuren, wurden also zu einem Zeitpunkt angebracht, als das Blatt seine Funktion als Stechervorlage bereits erfüllt hatte. Vielleicht wollte Rubens der Werkstattarbeit mit diesen Retuschen den letzten Schliff geben, bevor sie zum Verkauf freigegeben wurde.(Anm.12) Stijn Alsteens und Egbert Haverkamp Begemann schlossen für diese Weißhöhungen allerdings auch die Möglichkeit nicht aus, das es sich um „Opwerkingen“ von späterer Hand handeln könnte.(Anm.13)

Annemarie Stefes

1 Die Nichtbeachtung unserer Zeichnung erklärt sich wohl aus der Aufbewahrung in dem nur selten konsultierten „Format 2“.
2 Hollstein’s Dutch & Flemish Etchings, Bd. 3, 1951, S. 61, Nr. 3, Rubens e L'Incisione, bearb. v. Didier Bodart, Ausst.-Kat. Rom 1977, Nr. 18.
3 Vgl. Ingeborg Pohlen: Untersuchungen zur Reproduktionsgraphik der Rubenswerkstatt, München 1985, S. 153 und 158 sowie 161; vgl. Konrad Renger: Rubens dedit dedicavitque, Rubens’ Beschäftigung mit der Reproduktionsgraphik, I. Teil: Der Kupferstich, in: Jahrbuch der Berliner Museen 16, 1974, S. 122-175, S. 151.
4 Konrad Renger: Rubens dedit dedicavitque, Rubens’ Beschäftigung mit der Reproduktionsgraphik, I. Teil: Der Kupferstich, in: Jahrbuch der Berliner Museen 16, 1974, S. 122-175, S. 155.
5 Kopenhagen, Statens Museum for Kunst, Inv.-Nr. KMSsp185. Das Bild trägt das Wappen des Josias von Rantzau, aus dessen Sammlung laut Harzen auch die Hamburger Zeichnung stammen soll. – Eine 1785 mit der Sammlung Nourri in Paris versteigerte Zeichnung (Lugt Ventes 3834, S. 162, Nr. 847, Michael Jaffé: Rubens. Catalogo completo, Mailand 1989, Nr. 371) lässt sich aufgrund abweichend beschriebener Technik und Maße nicht mit unserem Blatt identifizieren: „Le Jugement de Salomon; composition de douze figures, faite à la plume, lavée au bistre & rehaussée de blanc. Ce dessin est connu par l’Estampe qu’en a gravé Bolswert: il porte 13 pouces 6 lignes de haut, sur 17 pouces 6 lignes de large [umgerechnet etwa 350 x 454 mm]“.
6 R.-A. d’Hulst, M. Vandenven: Rubens. The Old Testament, Corpus Rubenianum Ludwig Burchard, Bd. 3, London 1989, S. 148 und Nr. 46; den Bezug zu dem zerstörten Brüsseler Gemälde unterstreicht Bolswerts Widmung der Radierung an zwei Beamte der Stadt Brüssel.
7 Damit wird zugleich eine theoretisch denkbare Bewertung unserer Zeichnung als Kopie nach Bolswerts Stich ausgeschlossen.
8 Hollstein’s Dutch & Flemish Etchings, Bd. 17, Nr. 40; Gemälde in Boston, Museum of Fine Arts, Juliana Cheney Edwards Collection, Inv. Nr. 41.40, Klaus Albrecht Schröder, Heinz Widauer, Anne-Marie S. Logan: Peter Paul Rubens, Ausst.-Kat. Wien, Graphische Sammlung Albertina, Ostfildern-Ruit 2004, S. 405, Abb. 2.
9 Deutscher Privatbesitz, Klaus Albrecht Schröder, Heinz Widauer, Anne-Marie S. Logan: Peter Paul Rubens, Ausst.-Kat. Wien, Graphische Sammlung Albertina, Ostfildern-Ruit 2004, Nr. 103, mit 392 x 595 mm annähernd formatgleich mit dem Stich.
10 Ingeborg Pohlen: Untersuchungen zur Reproduktionsgraphik der Rubenswerkstatt, München 1985, S. 183.
11 Vgl. den allerdings flüchtiger modellierten Entwurf zu Boëtius Adamsz. Bolswerts „Coup de Lance“, London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1994,0514.39 (603 x 432 mm), Judson 2000, bei Nr. 37.
12 Vergleichbare Fälle erwähnte Renger 1974, S. 146–148: „Beweinung Christi“, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 20184; „Ausgießung des Heiligen Geistes“, 1627, London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1994,0514.38; vgl. ebd. S. 174 sowie Ingeborg Pohlen: Untersuchungen zur Reproduktionsgraphik der Rubenswerkstatt, München 1985, S. 172.
13 Symposium „Niederländische Altmeisterzeichnungen 1500 bis 1800“ am 21. und 22. 2. 2008 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.

Details zu diesem Werk

Pinsel in Ölfarben, über schwarzer Kreide und Feder in Braun auf hellbraunem Papier; Griffelspuren; Einfassungslinien (Feder in Braun) 429mm x 530mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 22778 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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