Pieter Jansz. Saenredam
Das Innere der St. Janskerk in Utrecht am 15. September 1636, 1636
Dem Haarlemer Maler Pieter Jansz. Saenredam, Sohn des Kupferstechers Jan Saenredam, gebührt das Verdienst, das „Kirchenporträt“ als Bildgattung in den nördlichen Niederlanden eingeführt zu haben.(Anm.1) Das Hamburger Blatt entstand während eines über vier Monate währenden Aufenthalts in Utrecht.(Anm.2) Die Stadt mit ihren zahlreichen, architektonisch vielfältigen mittelalterlichen Kirchen muss eine große Anziehungskraft auf den Künstler ausgeübt haben.(Anm.3)
Auf unserer Zeichnung ist die St. Janskerk dargestellt, am 15. September 1636 nach dem Leben gezeichnet, wie aus der eigenhändigen Beischrift hervorgeht. Es handelt sich um die Erstaufnahme der Kirche, entstanden ohne technische Hilfsmittel. Lediglich der Augenpunkt ist angegeben – ein tatsächlich einem Auge gleichender, umkreister Punkt an der Chorschranke oberhalb der beiden Figuren. Die wesentlichen Fluchtlinien wurden mit Graphit eingezeichnet. Saenredam ließ sich nicht allzuviel Zeit für diese Aufnahme – am gleichen Tag entstand eine aufwändige Darstellung der Utrechter Domkirche (Anm.4) – und dies könnte manche Flüchtigkeit erklären wie die zu schmal proportionierten Pfeiler links. In der endgültigen gemalten Fassung, heute in Rotterdam verwahrt, wurden diese Partien korrigiert, vermutlich mit Hilfe einer nicht mehr erhaltenen, im Atelier gezeichneten Konstruktionsvorlage.(Anm.5)
Im Detail übertrifft die vor Ort aufgenommene Zeichnung das Endprodukt an Wirklichkeitstreue und Realitätsgehalt. Dies betrifft die Bemalung des hölzernen Tonnengewölbes, die auf dem Gemälde nicht übernommen wurde, ebenso wie die bemalten Rundbögen der Langhausarkaden und das Grab im linken Seitenschiff. Damit ist die Frage nach dem dokumentarischen Wert der Saenredamschen Kirchenstücke zumindest im Falle des vorliegenden Blattes positiv zu beantworten, was sich nicht zuletzt an der Häufigkeit spiegelt, in der es als Quelle und Referenz für die Restaurierung zu Rate gezogen wurde.(Anm.6) So kamen die zeitweise übermalten „Rippen“ auf dem romanischen Tonnengewölbe bei der Restaurierung der Kirche (1982) wieder zum Vorschein.(Anm.7) Im Chor war seit 1580 die Bibliothek der Stadt Utrecht untergebracht – zu diesem Zweck trennte ihn ein gemauerter Querriegel vom restlichen Kirchenschiff. Vor dieser Trennwand erkennt man eine Kanzel, an deren Stelle sich vormals ein Marienaltar befand. Die gemalten Glasfenster des Chors entstanden um 1540 und sind heute nicht mehr erhalten. Links geht der Blick unter der hölzernen Orgelempore in das Seitenschiff mit der Anthoniuskapelle. Das mit einer hölzernen Umhüllung versehene Grab Dirk van Wassenaars befindet sich heute im südlichen Seitenschiff, ebenso wie das Epitaph dieses 1495 verstorbenen Probstes.(Anm.8)
Saenredams gezeichnete Kircheninterieurs lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen. Das Hamburger Blatt gehört in seiner Blickrichtung von West nach Ost zu der Gruppe der meist großformatigen Erstaufnahmen bzw. „Kompositionszeichnungen“, der gewöhnlich weitere kleinere Detailstudien aus abweichenden Blickrichtungen folgten.(Anm.9) Charakteristisch ist die Ausführung in Feder und brauner Tusche über Graphit. Nicht wenige dieser Zeichnungen wurden anschließend vom Künstler selbst aquarelliert.(Anm.10) Die Staffagefiguren hingegen sind sicher von späterer Hand hinzugefügt, ebenso wie die dunkelgrau abgesetzte Sockelzone der Säulen und die im gleichen Farbton hinzugefügten Konturen im linken oberen Deckenbereich.(Anm.11)
Annemarie Stefes
1 Sein frühestes Kirchenstück entstand im Jahre 1628: „Querschiff und ein Teil des Chores der St. Bavo-Kirche in Haarlem“, Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. 85.PB.225.
2 Darauf deuten datierte Zeichnungen vom 18. 6. bis zum 23. 10. 1636, vgl. Arie de Groot: De Utrechtse kerkgezichten van Pieter Saenredam en het probleem van hun betrouwbaarheid, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 17-49, S. 17.
3 Arie de Groot: De Utrechtse kerkgezichten van Pieter Saenredam en het probleem van hun betrouwbaarheid, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 17-49, S. 18–19; Hauptattraktion für Saenredam war wohl die Mariakerk, auf deren Darstellung er sich zu Anfang seines Aufenthaltes konzentrierte.
4 Het Utrechts Archief, Inv.-Nr. TA He 22, Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, Nr. 51.
5 Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, Inv.-Nr. 1766, Ausst.-Kat. Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 259–261, Nr. 59 mit Abb. Offensichtlich zeichnete Saenredam in den unbeheizten Kirchen nur in den Sommermonaten, während er die Ausarbeitung seiner Vor-Ort-Aufnahmen auf den Winter verlegte, vgl. Arie de Groot: De Utrechtse kerkgezichten van Pieter Saenredam en het probleem van hun betrouwbaarheid, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 17-49, S. 19. Zu der sorgfältigen Vorgehensweise Saenredams vgl. Ruurs 1987, S. 49–83, Arie de Groot: De Utrechtse kerkgezichten van Pieter Saenredam en het probleem van hun betrouwbaarheid, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 17-49, S. 36; Michiel C. Plomp: Pieter Saenredam als tekenaar, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 51-72, S. 58–62.
6 Zu der Diskussion um die Wirklichkeitstreue Saenredams vgl. Arie de Groot: De Utrechtse kerkgezichten van Pieter Saenredam en het probleem van hun betrouwbaarheid, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 17-49, S. 33–34, 36. De Groot kam selbst zu dem Ergebnis, dass den Vor-Ort-Aufnahmen Saenredams ein ungleich höherer dokumentarischer Wert beizumessen ist als den im Atelier ausgeführten Gemälden, die stärker kompositorischen Prinzipien zu folgen hatten.
7 Sie wurden vermutlich im 16. Jahrhundert angebracht, um den Kontrast zu dem 1539 vollendeten gotischen Chor abzumildern, vgl. De Groot, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 256.
8 Die Bestimmung der baulichen Details folgt De Groot, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 256, 258. Dort wurden auch Epitaphien und Wappenschilde identifiziert: Auf dem rautenförmigen Schild an der Nordseite des Langschiffs das Wappen der Aemilia Baerdesen (gest. 1622), vier Pfeiler dahinter das Epitaph des Kanonikus Willem Pijl (gest. 1591); auf der rechten Seite des Langschiffs sind die Wappen von Maria Hamel van Meerwijk (gest. 1635), Gerrit Hamel (gest. 1633) und Maria Rodius (gest. 1634) zu erkennen; neben der Kanzel befinden sich die Wappenschilde der Familie Godin.
9 Vgl. Arie de Groot: De Utrechtse kerkgezichten van Pieter Saenredam en het probleem van hun betrouwbaarheid, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 17-49, S. 41. Im Falle der St. Janskerk hat sich eine gezeichnete Detailstudie der Anthoniuskapelle erhalten: Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, Inv.-Nr. H 183, Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, Nr. 60.
10 Vgl. Michiel C. Plomp: Pieter Saenredam als tekenaar, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 51-72, S. 65, im Gegensatz zu der noch von Schaar, in: Eckhard Schaar: Rembrandt und sein Jahrhundert, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1994 vertretenen Auffassung.
11 Zu der im 18. Jahrhundert verbreiteten Neigung, Landschaften und Architekturdarstellungen des 17. Jahrhunderts zu ergänzen und mit Figuren zu staffieren, vgl. Michiel C. Plomp: Pieter Saenredam als tekenaar, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 51-72, S. 63 mit Verweis auf Ben Broos: Improving and Finishing Old Master Drawings: an Art in Itself, in: Hoogsteder-Naumann Mercury, 8, 1989, S. 34-55, S. 34–35. Im Falle des Hamburger Blattes geben die im Verhältnis zum Gebäude viel zu klein proportionierten Figuren ein deutliches Indiz für die fremde Hand, vgl. Michiel C. Plomp: Pieter Saenredam als tekenaar, in: Pieter Saenredam. Het Utrechtse Werk, Ausst.-Kat. Centraal Museum, Utrecht 2000, S. 51-72, S. 66.