Peter Paul Rubens, (?)
Landschaftsstudie, um 1620?
Ungeachtet ihrer alten Zuschreibung lag diese Zeichnung lange unter den anonymen Niederländern. Erst 1977 wurde sie in einem Vortrag von Matthias Winner wieder mit Rubens in Verbindung gebracht, als Naturstudie und Ausgangspunkt für die landschaftliche Rahmung des Gemäldes „Teich mit Kühen und Milchmädchen“ in Liechtenstein.(Anm.1) In diesem Fall gäbe die Hamburger Zeichnung mit ihrem schlichten, der unmittelbaren Naturanschauung folgenden Aufbau Anlass zur Neubewertung der landschaftlichen Anfänge des Künstlers.(Anm.2)
Dieser Vorschlag wurde unterschiedlich aufgenommen. Zweifel äußerten Adler und Baumstark, die das Blatt als Teilkopie nach dem Gemälde bzw. Kopie nach einer verlorenen Originalzeichnung betrachteten.(Anm.3) Angesichts der deutlichen Abweichungen von dem Bild ist mindestens Adlers Vorschlag abzulehnen; vielmehr charakterisieren die schlichten, spannungslosen Umrisse der überwachsenen Mauer das Blatt als Naturaufnahme oder Kopie nach einer solchen.
Renger wiederum folgte im Wesentlichen Winner in seiner positiven Beurteilung des Blattes, übersah jedoch nicht die qualitativen Mängel, die er noch 1996 durch mechanische Abnutzung erklärte, in einem Katalogbeitrag von 2003 indes auf „stümperhafte“ Überarbeitung mit der Feder zurückführte.
In der Tat sprechen die gleichmäßig girlandenartigen Konturen der Baumkronen und die monoton anmutende Vertikalschraffur gegen die Hand des Meisters. Möglicherweise erfolgte die Federzeichnung jedoch erst nach Faltung des Blattes – dann wäre sie eindeutig einer späteren Überarbeitung zuzuschreiben.(Anm.4)
Näher kommen die mit Kreide gezeichneten Partien gesicherten Rubens-Zeichnungen: der „Waldlandschaft“ in Oxford oder zwei Landschaften im British Museum, die um 1635 und 1638 angesetzt werden.(Anm.5) Allerdings zeigen sich bei dieser Gegenüberstellung auch die Schwächen der Hamburger Zeichnung. So stehen die gekringelten Konturen der Baumkronen im linken Hintergrund übergangslos neben der flächigen Binnenschraffur, und die Spiegelungen im Wasser wirken matt und kompakt und damit wenig überzeugend für einen Künstler, der sich erwiesenermaßen besonders für derartige Lichtreflexe interessierte.(Anm.6) Diese Abweichungen von den reifen Landschaftszeichnungen ließen sich erklären durch zeitliche Differenz – Rubens Autorschaft vorausgesetzt, wäre das Hamburger Blatt im Anschluss an das Liechtensteiner Gemälde um oder vor 1614 anzusetzen –, könnten aber auch als Indiz für die Hand eines anderen Künstlers bewertet werden.
Tatsächlich gibt es stilistische Berührungspunkte zu Zeichnern des Rubens-Kreises. Lugt brachte das Blatt mit Jan Wildens in Verbindung, der von 1616 bis ca. 1620 in der Rubenswerkstatt als Maler von Hintergründen arbeitete.(Anm.7) Um 1620 ließ er sich von dem Liechtensteiner Gemälde zu vergleichbaren Szenerien inspirieren.(Anm.8) Seine Zeichnungen aus dieser Zeit zeigen eine ähnliche Vorliebe für plastisch abschattierte, gerundete Formen, fein gekräuselte Konturen und vergleichbar harte Schraffen.(Anm.9) Kopien nach Handzeichnungen des Rubens sind allerdings bislang nicht bekannt.(Anm.10)
Ein stilistischer Zusammenhang besteht auch zu der dem jungen David Teniers zugeschriebenen Inv.-Nr. 22852. Dies betrifft nicht nur die weich modellierte Kreide- bzw. Graphitzeichnung, sondern auch die mit der Feder überarbeiteten Partien: kompakte Schraffurblöcke, gekräuselter Baumschlag, schwellend betonte Konturen und manieriert anmutende Häkchen.(Anm.11) Wenn man diese stilistischen Übereinstimmungen nicht auf Rubens-Einfluss zurückführen oder im Sinne einer allgemeinen Stiltendenz interpretieren möchte, wäre die Hand des jungen David Teniers für die Hamburger Zeichnung ebenfalls nicht auszuschließen.(Anm.12)
Annemarie Stefes
1 Sammlungen des Regierenden Fürsten von und zu Liechtenstein, Vaduz-Wien Inv.-Nr. 412, Wolfgang Adler: Landscapes and Hunting Scenes, I. Landscapes, Corpus Rubenianum Ludwig Burchard, Bd. 18, London 1982, Nr. 17, um 1614; vgl. Winner 1981 und zuletzt in In Arte Venustas. Studies on Drawings in Honour of Teréz Gerszi. Presented on Her Eightieth Birthday, hrsg. von Andrea Czére, Budapest 2007.
2 Vgl. Lisa Vergara: Rubens and the poetics of Landscape, New Haven und London 1982, S. 27–32. Eine Sonderstellung der Hamburger Zeichnung wäre auch aus der geschlossenen Komposition abzuleiten, die sie von den größtenteils auf landschaftliche Details focussierten Studien unterscheidet, vgl. Brown, in: Christopher Brown: Rubens' Landscapes, Ausst.-Kat. London, National Gallery 1996, S. 110, Anm. 50 sowie S. 85–86.
3 Wolfgang Adler: Landscapes and Hunting Scenes, I. Landscapes, Corpus Rubenianum Ludwig Burchard, Bd. 18, London 1982, S. 70; Baumstark, in: Liechtenstein: The Princely Collections, bearb. v. Reinhold Baumstark Ausst.-Kat. New York 1985, S. 330.
4 Hinweis von Robert-Jan te Rijdt auf dem Symposium „Niederländische Altmeisterzeichnungen 1500 bis 1800“ am 21. und 22. 2. 2008 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle. Die Querfalte wird je einmal rechts und links der Mitte durch eine horizontale Linie in brauner Feder betont.
5 Oxford, Ashmolean Museum, Schenkung Chambers Hall, Inv.-Nr. WA 1855.122, mit 383 x 499 mm im Format verwandt, Rembrandt, hrsg. von Klaus Albrecht Schröder, Marian Bisanz-Prakken, Ausst.-Kat. Wien, Albertina, Wolfratshausen 2004, Kat. 129; London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1854,0628.7 (353 x 514 mm) bzw. Inv.-Nr. Gg,2.229 (273 x 454 mm). Diese Zeichnungen wurden ebenfalls in der Mitte vertikal geknickt.
6 Hinweis von Stijn Alsteens auf dem Hamburger Symposium, siehe Anm. 4; vgl. Klaus Albrecht Schröder, Heinz Widauer, Anne-Marie S. Logan: Peter Paul Rubens, Ausst.-Kat. Wien, Graphische Sammlung Albertina, Ostfildern-Ruit 2004, S. 484.
7 Undatierte Karteinotiz im Archiv des Kupferstichkabinetts.
8 Z. B. „Landschaft mit Teich“, Aukt.-Kat. Wien, Dorotheum, 6. 7. 2000, Nr. 124.
9 Z. B. „Landschaft mit Bäumen“, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 20646 (228 x 313 mm), Wolfgang Adler: Jan Wildens. Der Landschaftsmitarbeiter des Rubens, Fridingen 1980, Nr. Z 15; vgl. ebd. Nr. Z 27, Boerner Lagerliste 1964, Nr. 137.
10 Vgl. Wolfgang Adler: Jan Wildens. Der Landschaftsmitarbeiter des Rubens, Fridingen 1980, S. 37; ebd. bei Nr. G 23.
11 Eigenschaften wie die kurze Vertikalschraffur am Uferrand lassen sich dort auch im Bereich der Graphitzeichnung beobachten. An zwei Teniers-Zeichnungen in Besançon erinnern Partien wie die Bäume hinten rechts und das etwas unbeholfene Nebeneinander von Konturen und Binnenzeichnung in den Laubkronen links: Besançon, Musée des Beaux-Arts et d’Archéologie, Inv.-Nr. D 149 und Inv.-Nr. D 137, David Teniers der Jüngere (1610-1690). Alltag und Vergnügen in Flandern, Ausst.-Kat. Karlsruhe, Heidelberg 2005, Nr. 75 bzw. Margret Klinge: David Teniers the Younger. Paintings - Drawings, Ausst.-Kat. Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Gent 1991, Nr. 126. Für den etwas unbeholfen wirkenden Weidenbaum mit den sperrigen Zweigen im linken Vordergrund lässt sich ein Gemälde im Los Angeles County Museum of Art vergleichen, Mira T. Hershey Memorial Collection, Inv. Nr. 46.49.4, Margret Klinge: David Teniers the Younger. Paintings - Drawings, Ausst.-Kat. Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, Gent 1991, Nr. 71.
12 Mindestens in den mittleren 1640er Jahren orientierte sich Teniers stilistisch an Rubens, vgl. Margret Klinge: David Teniers der Jüngere als Zeichner. Die Antwerpener Schaffenszeit (1633-1651), in: Jaarboek Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen 1997, S. 71-282, S. 182 und 186, vgl. Oxford, Ashmolean Museum, Inv. Nr. WA 1863.284 und Inv.-Nr. WA 1863.285, David Teniers der Jüngere (1610-1690). Alltag und Vergnügen in Flandern, Ausst.-Kat. Karlsruhe, Heidelberg 2005, S. 244, Nr. 73 und 74. Seine Kindheit verbrachte Teniers in Rubens’ unmittelbarer Nachbarschaft, und bei seiner Hochzeit 1637 amtierte Rubens als Trauzeuge, vgl. ebd. S. 14–15 und 34.