Cornelis de Vos, zugeschrieben
Jan Cossiers, ehemals zugeschrieben

Zwei Studien eines Frauenkopfes im Profil

Die von Harzens als „Rubbens“ erworbenen Studie lag zuletzt unter Jan Cossiers (1600–1671), auf Anregung Michael Jaffés, der sich an die 1658 datierten Porträts der Söhne des Künstlers erinnert sah.(Anm.1) Diese Zeichnungen sind allerdings kontrastreicher gearbeitet: mit breit schmelzendem Kreidestrich für die Wiedergabe der Haare, zart angedeuteten Gesichtszügen und tupfend markierten Wimpern, die auf eine für Cossiers charakteristische Weise die sensibel und weich umrandete Augenpartie beleben. Das Hamburger Blatt hingegen wirkt in der Linienführung markiger und entschiedener, mit eckig akzentuierten Augenlidern; die Kontraste zwischen hellen und dunklen Partien sind weniger stark ausgeprägt.
Alternativ wurde die Zeichnung in einer anonymen, undatierten Kartonnotiz mit Cornelis de Vos in Verbindung gebracht, dessen Autorschaft ebenfalls Stijn Alsteens und Martin Royalton Kisch in Erwägung zogen.(Anm.2) Tatsächlich stehen unter den De Vos zugewiesenen Blättern einige Kinderbildnisse in Paris unserer Zeichnung besonders nahe,(Anm.3) denen auch das „Bildnis zweier Knaben“ in London anzuschließen wäre und ein „Kopf eines Kleinkindes“ in Hamburger Privatbesitz.(Anm.4)
Cornelis de Vos – der ältere Bruder des Stilllebenmalers Paul de Vos (Inv.-Nr. 22538) – war der Lehrer des Jan Cossiers, womit eine Erklärung gegeben wäre für die stilistischen Überschneidungen. Dies betrifft insbesondere die auf beiden Werkgruppen ausgeprägte Vorliebe für kurze, winklig übereinander gesetzte Schraffen zur Modellierung von Kinn, Schläfen und Wangen. Sie sind auf den Zeichnungen der „Cossiers-Gruppe“ jedoch noch subtiler ineinander verwoben, während der rauhere Charakter des Hamburger Blattes sich gut mit einer Zuweisung an den älteren Künstler vereinbaren ließe.
Mit Sicherheit ist davon auszugehen, dass das vorliegende Blatt nach dem Leben gezeichnet wurde. In einer flüchtigen Studie unten links wiederholte der Künstler das Motiv bei etwas stärker abgewandter Kopfhaltung. Eine weitere, wohl zuerst aufgenommene und anschließend verworfene Studie des Profils wurde durch die kräftige Kreideschraffur überdeckt.
Innerhalb des vorwiegend aus Bildnissen bestehenden Œuvres wäre für die vorliegende Studie eine Funktion als Vorarbeit zu einem Damenporträt denkbar. Haartracht, Halsausschnitt, Kette und wohl auch die Gesichtszüge kommen einem um 1633 anzusetzenden verlorenen Frontalbildnis der Prinzessin Marguerite de Lorraine (1636–1672) sehr nahe, das durch einen 1651 datierten Stich Pieter de Jodes dokumentiert ist.(Anm.5)

Annemarie Stefes

1 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. Oo,10.179; Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Inv.-Nr. RP-T-2008-103, Marijn Schapelhouman, Frits Scholten: Acquisitions. Eleven Drawings and a Statue. A Selection from the Van Regteren Altena Donation, in: The Rijksmuseum Bulletin 57, 2009, S. 88-111, Nr. 11; New York, The Pierpont Morgan Library, Inv.-Nr. I, 248, ebd. Nr. 159; Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 21918; Paris, Fondation Custodia, Inv.-Nr. 1367, Flemish Drawings of the Seventeenth Century from the Collection of Frits Lugt, Ausst.-Kat. London/Paris/Bern/Brüssel, Gent 1972, Nr. 20 mit weiteren Verweisen. Dieser Gruppe anzuschließen sind auch das „Mädchenbildnis“ in London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1854,0513.12, das „Bildnis eines jungen Mannes“ in Edinburgh, National Gallery of Scotland, Inv.-Nr. 1660, Michael Jaffé: Figure Drawings attributed to Rubens, Jordaens and Cossiers in the Hamburger Kunsthalle, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, 1971, S. 39-50, Abb. 11, ein „Mädchenkopf“ in ehemals Londoner Privatbesitz, ebd. Abb. 12 und ein weiteres Bildnis dieses Mädchens, 1996 bei Thomas le Claire, Hamburg, Katalog 10, Nr. 7.
2 Stijn Alsteens in einem Brief vom 9. 10. 2007, Martin Royalton-Kisch mündlich, 3. 10. 2008, nach Vorlage einer Digitalphotographie.
3 Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv.-Nr. 19917, Inv.-Nr. 20200 und Inv.-Nr. 21441, Katlijne Van der Stighelen: Cornelis de Vos as a Draughtsman, in: Master Drawings 27, 1989, S. 322-340, Abb. 5–7.
4 London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. 1941,1108.17, Katlijne Van der Stighelen: Cornelis de Vos as a Draughtsman, in: Master Drawings 27, 1989, S. 322-340, Abb. 9; Hamburg, Kunsthandel Thomas le Claire, Katalog 11, 1998, Nr. 12; vgl. ebenfalls die Dar-stellung einer älteren Frau in Oxford, Christ Church Picture Gallery, Inv.-Nr. 1091, Van Eyck tot Rubens, Ausst.-Kat. Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam 1948, Nr. 144 und ein De Vos zugeschriebenes Männerporträt an unbekanntem Standort, Katlijne Van der Stighelen: Cornelis de Vos as a Draughtsman, in: Master Drawings 27, 1989, S. 322-340, Abb. 13.
5 Hollstein’s Dutch & Flemish Etchings, Bd. 9, Nr. 126 bzw. Bd. 49, S. 18, Edith Greindl: Corneille de Vos: portraitiste Flamand 1584-1651, Brüssel 1944, Abb. 33. – In Typus, Frisur und Schmuck vergleichbar ist auch die Virginalspielerin auf einem De Vos zugeschriebenen Familienbildnis, Aukt.-Kat. Amsterdam, Muller, 27. 4. 1909, Nr. 157.

Details zu diesem Werk

Schwarze und weiße Kreide, Rötel auf gelblichgrauem Papier 156mm x 123mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 22440 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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