Ferdinand Bol

Joseph im Gefängnis, die Träume seiner Mitgefangenen deutend

Es wird angenommen, dass der Dordrechter Künstler Ferdinand Bol seine erste Ausbildung bei Jacob Gerritsz. Cuyp erhielt, bevor er gegen 1636/37 in Rembrandts Werkstatt eintrat, um dort vermutlich als Gehilfe zu arbeiten. Erste signierte Gemälde sind erst aus dem Jahr 1641 erhalten.(Anm.1)
Viele seiner Zeichnungen galten früher als Werke Rembrandts: So auch das vorliegende Blatt, wie aus dem Harzen-Inventar hervorgeht. Dies wurde jedoch bereits von Hofstede de Groot (1906) in Frage gestellt, der das Blatt in Verbindung brachte mit einem zu diesem Zeitpunkt noch Bol zugeschriebenen, im Bildaufbau übereinstim-menden Gemälde in Schwerin.(Anm.2) Bestätigt wurde die Zuschreibung an Bol bereits durch Saxl (1921), Münz (1924) und Lugt,(Anm.3) während Pauli (1924) noch an der alten Benennung festhielt. Inzwischen wird das Schweriner Gemälde als Werk eines Bol-Schülers angesehen.(Anm.4) Die Hamburger Zeichnung hingegen gilt weiterhin als eigenhändiges und charakteristisches Werk des Ferdinand Bol.(Anm.5)
Deutlich zu erkennen sind die unterschiedlichen Stufen der Ausführung. Zunächst wurden Figuren und Raum mit feinen Federstrichen angelegt und erst in einem zweiten und drittem Schritt mit kräftigen Konturen und breitflächigem Pinsel überarbeitet.(Anm.6) Dabei ist eine unterschiedliche Behandlung zu beobachten zwischen einerseits Joseph und dem zu seiner Rechten sitzenden Gefangenen und andererseits dem durch die Beleuchtung hervorgehobenen, nicht mit breiter Feder überarbeiteten Gefangenen links. Dieses Vorgehen entspricht dem dichten psychologischen Gehalt der biblischen Vorlage, wie Röver-Kann (Ausst.-Kat. Bremen 2000/01) beobachtete, wenngleich anders als dort beschrieben. Denn der links im Stroh sitzende Mann ist nicht der Mundschenk, der nach einer positiven Deutung seines Traums „demütig und dankbar die Hände gefaltet hat“, sondern der in seiner Verzweiflung die Hände ringende Bäcker. Die beiden Hofbeamten des Pharao waren ins Gefängnis geworfen worden, wo der zu Unrecht gefangen gehaltene Hebräer Joseph ihre rätselhaften Träume auslegte: Während der Mundschenk nach drei Tagen wieder begnadigt werden sollte, wird dem Bäcker sein bevorstehender Tod durch den Strang verkündigt (1. Mose 40, 1–22).
Den Schlüssel für die Identifikation der Figuren fand Jan Leja in einer Motiventlehnung. Der in seiner Verzweiflung die Hände ringende Bäcker ist direkt abzuleiten von Rembrandts „Reuigem Judas“ in seiner radierten Umsetzung durch Jan Gillisz. van Vliet von 1654.(Anm.7) Auch für die Figur des Mundschenks orientierte sich Bol an Rembrandt.(Anm.8)
Letztlich ist auch die Fokussierung auf den Bäcker von einer Rembrandt-Zeichnung abzuleiten. Auf dessen in London verwahrten Darstellung des gleichen Themas geschieht dies mithilfe der Blicke von Joseph und dem Mundschenk, die beide auf den unglücklichen Bäcker gerichtet sind.(Anm.9) Bol übernimmt dieses szenische Arrangement, unterstreicht dessen Wirkung aber zusätzlich durch den größeren Abstand zwischen dem Bäcker und seinen beiden Mitgefangenen.(Anm.10)
Aufgrund der Bezüge zu Rembrandt datiert Jan Leja unsere Zeichnung um 1645/49. Sie geht davon aus, dass es sich nicht um ein eigenständiges Kunstwerk, sondern um einen Gemäldeentwurf handelt, mit den fein schraffierten bzw. dunkel lavierten Partien als Indikator für die auf der gemalten Fassung anzubringenden Schatten.(Anm.11)
Eine zeitgenössische Kopie nach unserer Zeichnung wurde 2003 in New York zum Verkauf angeboten. Sie diente möglicherweise als Vorlage für das erwähnte Gemälde in Schwerin.(Anm.12)

Annemarie Stefes

1 Vgl. Holm Bevers, Lee Hendrix, William W. Robinson, Peter Schatborn: Drawings by Rembrandt and His Pupils. Telling the Difference, Ausst.-Kat. Los Angeles, The J. Paul Getty Museum 2009-2010, S. XI und ebd. S. 80. Das 1641 datierte Gemälde befindet sich in Utrecht, Rijksmuseum Het Catharijneconvent, Inv.-Nr. NK 2484, Albert Blankert: Ferdinand Bol (1616-1680), Rembrandt's Pupil, Doornspijk 1982, Nr. 11.
2 Schwerin, Staatliches Museum, Inv.-Nr. G 65, Gemälde der Rembrandt-Schüler, 6 Bde., Landau 1983, Bd. 3, Nr. 970.
3 Lugt in einem Brief, gemäß einer Karteinotiz im Archiv des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle. Saxl glaubte, dass die breiteren Federstriche von Rembrandt hinzugefügt wurden.
4 Albert Blankert: Ferdinand Bol (1616-1680), Rembrandt's Pupil, Doornspijk 1982, S. 159 („Carel Fabritius, Samuel van Hoogstraeten?“); Gemälde der Rembrandt-Schüler, 6 Bde., Landau 1983, Bd. 3, S. 1481 („Gottfried Kneller?“); Leja 2004, S. 160, S. 162.
5 Zuletzt bei Röver-Kann, in: Anne Röver-Kann, Anne Buschhoff: Rembrandt, oder nicht? Zeichnungen von Rembrandt und seinem Kreis aus den Hamburger und Bremer Kupferstichkabinetten, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Ostfildern-Ruit 2000, Leja 2004 unter Verweis auf eine Bol-Zeichnung in Paris, École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, Inv.-Nr. PC 34525, und Holm Bevers auf dem Symposium „Niederländische Altmeisterzeichnungen 1500 bis 1800“ am 21. und 22. 2. 2008 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle; lediglich Albert Blankert: Ferdinand Bol (1616-1680), Rembrandt's Pupil, Doornspijk 1982 bezweifelte Bols Autorschaft, ausgehend von Zweifeln an dem Schweriner Gemälde.
6 Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 161.
7 „Der Zerknirschte“, H. 22, nach der Judas-Figur aus Rembrandts Gemälde von 1629 in englischem Privatbesitz, Bauch 1966, Nr. 47, vgl. Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, ebd. S. 163–164; vgl. auch die Übereinstimmungen in der Gewandung der Figur. Leja hält es für möglich, dass die Berühmtheit des formalen Prototypen Bol auf die zeichnerische Überarbeitung des Bäckers verzichten ließ.
8 Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 164–165 verwies auf einen in gegenseitiger Ausrichtung mit ebenfalls aufgestütztem Kopf dargestellten Sohn Jakobs auf einer Zeichnung in Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Inv.-Nr. RP-T-1901-A-4518, Peter Schatborn: Tekeningen van Rembrandt, zijn onbekende leerlingen en navolgers, Catalogus van de Nederlandse Tekeningen in het Rijksprentenkabinet, Rijksmuseum, Amsterdam, Bd. 4, Amsterdam 1985, Nr. 17.
9 Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 165–166; London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. Gg,2.248 verso, Otto Benesch: The Drawings of Rembrandt, 6 Bde., London 1954-57, Bd. 2, Nr. 423.
10 Die leicht vom Betrachter abgewandte Haltung Josephs – abweichend von älteren Fassungen des Themas wie dem Stich des Lucas van Leyden von 1512 (H. 22) – verbindet das Blatt mit einer Flinck zugeschriebenen Zeichnung im Art Institute of Chicago, Inv.-Nr. 1967.144, Otto Benesch: The Drawings of Rembrandt, 6 Bde., London 1954-57, Bd. 1, Nr. 80 (als Rembrandt), vgl. Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 166. Leja führte die Bol und seinen Vorlagen gemeinsamen Elemente der Gefängnisarchitektur (Säule, Treppe und Gewölbe) zurück auf eine gemeinsame Vorlage, die von Dirck Volckertsz.Coornhert nach Marten van Heemskerck gestochene Darstellung des gleichen Themas, H. 46, Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 167.
11 Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 161–162.
12 Aukt.-Kat. New York, Swann Galleries, 23. 1. 2003, Nr. 191, vgl. Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 160.

Details zu diesem Werk

Feder und Pinsel in Braun auf ehemals weißem Papier; Einfassungslinien (Feder in Braun) 166mm x 229mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 22412 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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