Rembrandt Harmensz. van Rijn, Zeichner

Der Engel erscheint Hagar und Ismael in der Wüste, um 1650-1655

Von seinem Lehrer Pieter Lastman übernahm Rembrandt die Vorliebe für zuvor selten dargestellte Themen aus dem Alten Testament.(Anm.1) Die Verstoßung Hagars und Ismaels, ihre Wüstenwanderung und Rettung vor dem Verdursten durch einen von Gott gesandten Engel (1. Mose 21, 9–21) mit ihrer anrührenden Botschaft von menschlicher Verfehlung und dem dennoch rettenden Eingreifen eines barmherzigen Gottes(Anm.2) wurde entsprechend häufig von Rembrandt und seinen Schülern wiedergegeben: Mit annähernd 100 Darstellungen wurde die Geschichte der Hagar von einem seltenen Bildgegenstand zum beliebten Bildthema transformiert.(Anm.3)
Unter diesen Arbeiten gebührt der vorliegenden Zeichnung eine besondere Stellung, denn die Kargheit der Ausdrucksmittel – spröde Federstriche auf weißem Grund, der Verzicht auf vermittelnde Pinselarbeit – erscheinen der Darstellung der beinahe Verdurstenden angemessen. In besonderer Weise betont Rembrandt die aussagekräftigen Gesten. Vielleicht um ihre Wirkung zu verstärken, wurde der ursprünglich größere Flügel des Engels mit Deckweiß kaschiert und durch einen kleineren Flügel ersetzt. Schwere Konturen betonen den zur Seite gesunkenen Kopf des abseits liegenden Knaben Ismael. Eine besondere Rolle spielt die unbearbeitet gelassene Papierfläche. Zu einem Sinnbild der Trostlosigkeit wird der umgestürzte Wasserkrug auf weißem Grund.
Unser Blatt bildet mit stilistisch verwandten Darstellungen aus dem Alten Testament eine Werkgruppe, die in die erste Hälfte der 1650er Jahre datiert wird.(Anm.4) Als eigenständige Werke ohne funktionellen Bezug zu Gemälden oder Radierungen entstanden diese Blätter vermutlich aus reinem Interesse an den biblischen Motiven. Als zeitlicher Anhaltspunkt kann eine 1652 datierte Zeichnung aus Amsterdamer Privatbesitz herangezogen werden.(Anm.5)
Eine im Ausdruck verwandte „Verstoßung Hagars“ in Berlin wird heute Rembrandts Schüler Willem Drost (1633–1659) zugeschrieben.(Anm.6) Von unserer Zeichnung abgeleitet ist möglicherweise ein frühes Gemälde des Jan van Noordt (1623/24–nach 1676).(Anm.7)

Annemarie Stefes

1 Vgl. Richard Hamann: Hagars Abschied bei Rembrandt und im Rembrandt-Kreise, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 8/9, 1936, S. 471-578; Schatborn, in: Holm Bevers/Sölter 2008, Peter Schatborn, Barbara Welzel: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Zeichnungen und Radierungen, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Amsterdam, Rijksmuseum, London, National Gallery, München u.a. 1991/92, S. 114; Netty van de Kamp: Die Genesis: Die Urgeschichte der Erzväter, in: Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst, Ausst.-Kat. Münster/Amsterdam/Jerusalem, Zwolle 1994, S. 24-53, S. 30–31.
2 Vgl. Röver-Kann, in: Rembrandt, oder nicht? Zeichnungen von Rembrandt und seinem Kreis aus den Hamburger und Bremer Kupferstichkabinetten, bearb. v. Anne Röver-Kann, Anne Buschhoff, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Ostfildern-Ruit 2000 mit Verweis auf Richard Hamann: Hagars Abschied bei Rembrandt und im Rembrandt-Kreise, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 8/9, 1936, S. 471-578, vgl. H. van de Waal: "Hagar in de woestijn" door Rembrandt en zijn school, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaerboek 1, 1947, S. 143-168 bzw. H. van de Waal: ‚Hagar in the Wilderness’ by Rembrandt and his School, in: Steps towards Rembrandt. Collected Articles 1937-1972, Amsterdam und London 1974, S. 90-112.
3 Christian Tümpel: Variation und seltenes Thema, in: Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst, Ausst.-Kat. Münster/Amsterdam/Jerusalem 1994, S. 156-167, S. 164.
4 Dies sind „Ruben am Brunnen“, unserem Blatt auch verwandt in dem Verzweiflungsgestus der Hauptfigur, Frankfurt am Main, Städel Museum, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 13380, Otto Benesch: The Drawings of Rembrandt, 6 Bde., London 1954-57, Bd. 5, Nr. 905, Annette Strech: "Nach dem Leben und aus der Phantasie". Niederländische Zeichnungen aus dem Städelschen Kunstinstitut, Ausst.-Kat. Frankfurt am Main, Städel Museum, Mainz 2000, Nr. 60; „Aufbruch zur Rückkehr aus Ägypten nach Israel“, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. KdZ 5262, Otto Benesch: The Drawings of Rembrandt, 6 Bde., London 1954-57, Bd. 5, Nr. 902, Holm Bevers: Rembrandt. Die Zeichnungen im Berliner Kupferstichkabinett, Ostfildern 2006, Nr. 45; weitere Zeichnungen erwähnt Röver-Kann, in: Rembrandt, oder nicht? Zeichnungen von Rembrandt und seinem Kreis aus den Hamburger und Bremer Kupferstichkabinetten, bearb. v. Anne Röver-Kann, Anne Buschhoff, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, Ostfildern-Ruit 2000, S. 128, Anm. 1.
5 „Homer, Verse vortragend“, Amsterdam, Sammlung Six, Otto Benesch: The Drawings of Rembrandt, 6 Bde., London 1954-57, Bd. 5, Nr. 913, vgl. Strech, in: Annette Strech: "Nach dem Leben und aus der Phantasie". Niederländische Zeichnungen aus dem Städelschen Kunstinstitut, Ausst.-Kat. Frankfurt am Main, Städel Museum, Mainz 2000, S. 144.
6 Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. KdZ 5788, vgl. Holm Bevers: Rembrandt. Die Zeichnungen im Berliner Kupferstichkabinett, Ostfildern 2006, S. 209.
7 Kingston, Canada, Agnes Etherington Art Centre, Inv.-Nr. 40-010, David A. de Witt: Jan van Noordt. Painter of History and Portraits in Amsterdam, Montreal & Kingston, London, Ithaca 2007, Nr. 1.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun, mit Deckweiß stellenweise korrigiert; Einfassungslinien (Feder in Braun) 183mm x 248mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 22411 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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