Hugo van der Goes, Kopie?
Anonym (niederländisch, 16. Jh.)

Reiterzug vor einem Grab, um 1500

Seit 1919 gilt unser Blatt als Kopie nach einem verlorenen Original des Hugo van der Goes.(Anm.1) Ähnliche Reiterzüge begegnen auf dem verschollenen Gemälde „David und Abigail“ sowie im Hintergrund des Montforte- und des Portinari-Altars.(Anm.2) Charakteristisch für Van der Goes sind u. a. die steifen Bewegungen der Figuren, ihre parallel zur Bildfläche ausgebreiteten Hände und die geöffneten Mäuler der Pferde mit den heraushängenden Zungen. Gleichzeitig kennzeichnen die vorsichtig, bisweilen strichelnd angelegten Konturen am ausgestreckten Arm des mittleren Reiters oder an den Hauben der drei Frauen das Blatt als Kopistenarbeit. Dies gilt auch für die stellenweise dünn und kraftlos wirkenden Formen wie z. B. den linken Arm der Reiterin am rechten Blattrand. Die wenigen für Hugo gesicherten Zeichnungen sind deutlich prägnanter formuliert.(Anm.3) Dabei finden zeichnerische Eigenarten des Künstlers ihren Widerhall in den sperrigen Faltenwürfen mit schmalen, eckig umbrechenden, hell beleuchteten Graten oder den feinen, stellenweise von Punkten durchsetzten Gesichtsschraffen. Auch zu Gemälde-Unterzeichnungen des Künstlers lassen sich Gemeinsamkeiten beobachten.(Anm.4) Diese Nähe wäre am besten zu erklären durch Bezug auf eine gezeichnete Vorlage.
Noch nicht vollständig gedeutet ist die Ikonographie der Darstellung. Harzen beschrieb die Szene als Begegnung zwischen einem Reiterzug um den späteren Kaiser Maximilian mit dem Hl. Macarius, der in Gent als Pestheiliger verehrt wurde und hier die vornehme Gesellschaft auf die Vergänglichkeit des Lebens verweise. Winkler (1964) identifizierte den Kaiser an der Spitze des Zuges mit Friedrich III. Beides kann mit Blick auf zeitgenössische Porträts akzeptiert werden.(Anm.5) Die von Winkler ebenfalls vorgeschlagene Gleichsetzung der vordersten Reiterin mit der jungen Maria von Burgund ist indes wohl auszuschließen, da diese Dame durch einen ihr vertraulich zugewandten Mann von Maximilian getrennt ist.(Anm.6)
Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob hier eine Allegorie – entfernt erinnernd an die „Begegnung zwischen den drei Lebenden und drei Toten“(Anm.7) – oder nicht eher ein historisches Ereignis bzw. die Episode einer Legende dargestellt wird. Letzteres wurde kürzlich von Erwin Pokorny vorgeschlagen, der sich an die Auffindung von Opfern eines historischen Massakers oder einer Massenhinrichtung erinnert fühlte und darauf hinwies, dass die Kostümierung des „Mahners“ mit dem über die Schulter gelegten Chaperon gegen einen Eremitenheiligen spricht.(Anm.8) Auch steht er nicht in einem offenen Grab, sondern einer ummauerten Fläche, die zu einer Richtstätte gehören könnte. Auf eine Massenhinrichtung verweist vielleicht das ferne, undeutlich notierte Gebilde links hinter der Stadt, das eher an einen Galgen mit angelehnter Leiter als an ein Haus erinnert. Da sich die Ähnlichkeit mit Maximilian auch durch ein „porträt historié“ erklären ließe und daher ebenso gut eine mittelalterliche Episode von der Auffindung von Märtyrergebeinen dargestellt sein könnte,(Anm.9) muss die Frage nach dem Wo und Wann des Ereignisses vorläufig offen blieben.
Ungeachtet der Zusammenhänge mit Hugo van der Goes und den Habsburger Kaisern ist die Hamburger Zeichnung aus stilistischen Gründen später anzusetzen. Zwar reflektiert sich in der Figurenzeichnung noch die Handschrift der verlorenen Vorlage aus den 1480er Jahren, und auch das Papier kann aufgrund des Wasserzeichens in diese Zeit datiert werden. Doch wirkt die Zeichnung im Bereich von Landschaft und Hintergrund weiter entwickelt. In dem leichtflüssigen Federstrich, wie er für die Wiedergabe der Totenschädel im Vordergrund beobachtet werden kann, sah Fritz Koreny gewisse Anklänge an Zeichnungen des Jacob Cornelisz. van Oostsanen; darüber hinaus erinnert die luftige Gestaltung der Bäume und Figuren im Hintergrund an einige Blätter des Errera-Skizzenbuches, so dass daraus ein Datierungsansatz um oder nach 1520 abzuleiten wäre.(Anm.10) Erwin Pokorny hingegen hielt eine Entstehung schon um 1500 für möglich, womit das Blatt in die engere Van der Goes-Nachfolge gesetzt werden könnte.(Anm.11) Die feine Schraffur von Gesichtern und Gewändern in Verbindung mit luftiger skizziertem Hintergrund begegnet ähnlich auf dem im frühen 16. Jahrhundert entstandenen „Hl. Lukas“ in Rotterdam.(Anm.12) Unter den Zeichnungen aus dem Umkreis Hugos steht, gerade auch in der Gestaltung des Hintergrundes, eine „Kreuzigung des Hl. Andreas“ in Florenz unserem Blatt recht nahe.(Anm.13)
Mit einiger Sicherheit wurde unser Blatt von späterer Hand beschnitten: Darauf deutet die verso gut zu erkennende senkrechte Knickfalte, die sich rechts von der Blattmitte befindet.
Harzen setzte die Zeichnung offensichtlich in Bezug zu den Antwerpener Tapisse-riemanufakturen des späten 16. Jahrhunderts, wie aus seinem Verweis auf den Teppichwirker und -händler Daniel Stuerbout (um 1567–1600) hervorgeht. Ob es sich bei dem Blatt bzw. dem verlorenen Original um einen Tapisserieentwurf handelt – in Anlehnung an eine kompositorisch verwandte gezeichnete „Bärenjagd“ in New York (Anm.14) – bleibt dahingestellt. Pokorny hielt eher einen Zusammenhang mit der Gestaltung einer Friedhofsmauer für denkbar.(Anm.15)

Annemarie Stefes

1 Erstmals vorgeschlagen von Ludwig von Baldass: Die Nachzeichnungen nach verschollenen Gemälden des Hugo van der Goes, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst 1919, Nr. 1, S. 2-6.
2 Die verlorene Komposition „David und Abigail“ ist durch eine Reihe von Kopien dokumentiert, z. B. Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts, Inv.-Nr. P 04, vgl. Friedrich Winkler: Das Werk des Hugo van der Goes, Berlin 1964, S. 95–99, Dhanens 1998, S. 108; „Montforte-Altar“, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 1718; „Portinari-Altar“, Florenz, Galeria degli Uffizi, Inv.-Nr. 3192.
3 Z. B. „Jakob und Rahel“, Oxford, Christ Church Picture Gallery, Inv.-Nr. 1335, Fritz Koreny, Erwin Pokorny, Georg Zeman: Altniederländische Zeichnungen von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch, Ausst.-Kat. Antwerpen, Rubenshuis, Antwerpen 2002, Nr. 30.
4 Vgl. die Modellierung von Stirn, Wangen und Halsausschnitt, den gestrichelten Kinnkontur und die durch kurze Vertikalschraffur markierten runden Augenlider mit der Unterzeichnung der „Beweinung Christi“, Sander 1992, S. 68, Abb. 17. Die dicht modellierende Kreuzschraffur in der Gewandung des knienden Geistlichen erinnert an die Unterzeichnung des Berliner „Montforte-Altars“, ebd. S. 75, Abb. 22. Fritz Koreny beobachtete Parallelen im Lichteinfall zu dem Berliner „Montforte-Altar“, besonders in der durch die Beleuchtung hervorgehobene rechten Hand des reitenden Königs (mündlich, 19. 4. 2005).
5 Friedrich Winkler: Das Werk des Hugo van der Goes, Berlin 1964, S. 242. Die Identifizierung mit Maximilian stützt sich auf die Ähnlichkeit mit gesicherten Porträts, z. B. im älteren Gebetbuch Maximilians, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1907, fol. 61v, Hilger 1973. Besuche Maximilians bei Hugo van der Goes sind dokumentiert, vgl. Elisabeth Dhanens: Hugo van der Goes, Antwerpen 1998, S. 56. Für Friedrich III. vgl. Jörg Breu, „Friedrich III. mit den Hl. Florian und Paulus“, Stift Melk, Stiftsgalerie.
6 Für diesen Hinweis vom 14. 5. 2009 und die anregende Diskussion dieser Zeichnung danke ich Erwin Pokorny.
7 Dieses Thema wurde in der Buchmalerei des burgundischen Hofes gerne im Zusammenhang mit Jagdszenen dargestellt: z. B. Gebetbuch der Maria von Burgund, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. Cod. 78 B 12, fol. 220v; weitere Beispiele, in: Eberhard König u.a.: Das Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund und Kaiser Maximilians, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Lachen am Zürichsee 1998, S. 32, 34–35, Abb. 11. Auf Vanitasbezug könnte auch der den Reiterzug beschließende Narr mit dem Affen verweisen, der dem festlichen Gepräge einen ironisch-hintersinnigen Akzent verleiht. Die Konfrontation von höfischer Gesellschaft und mahnendem Einsiedler begegnet auch auf dem Wandfresko des Buonamico Buffalmaco am Campo Santo in Pisa (freundlicher Hinweis von Erwin Pokorny per E-Mail, 21. 6. 2009).
8 Erwin Pokorny in einer E-Mail vom 14. 5. 2009 im Anschluss an seinen Besuch in der Hamburger Kunsthalle
9 Siehe Anm. 8, mit Verweis auf Dreikönigsdarstellungen mit Bildnis des Kaisers.
10 Fritz Koreny bei einem Besuch im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle am 19. 4. 2005; vgl. auch den Hinweis bei Egbert Haverkamp Begemann, Mary Tavener Holmes, Fritz Koreny, Donald Posner, Duncan Robinson: The Robert Lehman Collection VII. Fifteenth- to Eighteeth-Century European Drawings. Central Europe, The Netherlands, France, England, New York/Princeton 1999, S. 123, Anm, 28. Grundsätzlich vergleichbare Zeichnungen Van Oostsanens befinden sich z. B. in London, British Museum, Department of Prints and Drawings, Inv.-Nr. Ff,4.91, um 1520/25, Timothy B. Husband, Ellen Konowitz, Zsuzsanna Van Ruyven-Zeman: The Luminous Image. Painted Glass Roundels in the Lowlands, 1480-1560, Ausst.-Kat. New York, Metropolitan Museum of Art, New York 1995, Nr. 43. Zu den um 1530/40 anzusetzenden Zeichnungen des Errera-Skizzenbuches in Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts, Sammlung De Grez, Inv.-Nr. 4060/4630, vgl. Franz 1969, Abb. 51–54 und Pieter Bruegel als Zeichner, Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Berlin 1975, S. 137; vgl. auch einen von Van der Goes inspirierten anonymen Tapisserieentwurf in Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Inv.-Nr. RP-T-1921-480, bei Karel G. Boon: Netherlandish Drawings of the Fifteenth and Sixteenth Centuries, Catalogue of the Dutch and Flemish Drawings in the Rijksmuseum, 2Bde. Den Haag 1978, Nr. 521 geführt als „Südliche Niederlande, um 1515/25“.
11 Vorgeschlagen in einer E-Mail vom 21. 6. 2009.
12 Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen, Inv.-Nr. N 94, vgl. Elisabeth Dhanens: Hugo van der Goes, Antwerpen 1998, S. 122–123.
13 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv.-Nr. 1332 E, Wouter Kloek, Bert W. Meijer: Fiamminghi e Olandesi a Firenze. Disegni dalle collezioni degli Uffizi, Ausst.-Kat. Florenz, Gabinetto disegni e stampe degli Uffizi, Florenz 2008, Nr. 3. Diese Zeichnung wurde zeitweise mit Huygh Jacobsz. (um 1470–1534), dem Vater des Lucas van Leyden in Verbindung gebracht. Auf Lucas wiederum könnte sich die Annotation im linken unteren Eck der Hamburger Zeichnung beziehen, vermutlich jedoch eher aufgrund einer gewissen kompositorischen Nähe zu dessen „Bekehrung Pauli“ (H. 107).
14 New York, Metropolitan Museum of Art, Robert Lehman Collection, Inv.-Nr. 1975.I.822, Egbert Haverkamp Begemann, Mary Tavener Holmes, Fritz Koreny, Donald Posner, Duncan Robinson: The Robert Lehman Collection VII. Fifteenth- to Eighteeth-Century European Drawings. Central Europe, The Netherlands, France, England, New York/Princeton 1999, Nr. 25.
15 Siehe Anm. 11.

Details zu diesem Werk

Feder in Braun auf gelblichem Papier; Einfassungslinien (Feder in Schwarzbraun) 249mm x 298mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21927 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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