Anonym

Brustbild eines Mannes, um 1460/70?

Das von Harzen als „Schule Jan van Eycks“ inventarisierte Blatt steht in engem Zusammenhang mit einem gezeichneten Männerporträt in Wien.(Anm.1) Dieses wiederum stimmt eng überein mit einem Gemälde an unbekanntem Standort,(Anm.2) bei dem es sich um das von Friedrich Winkler vermutete gemeinsame Vorbild beider Zeichnungen handeln könnte.(Anm.3)
Während das Bild von Suzanne Laemers (RKD) versuchsweise der deutschen Schule zugewiesen wurde, blieb die Zuordnung des Wiener Blattes zur Niederländischen Schule weitgehend unangefochten.(Anm.4) Benesch (1928) und Krischel (Ausst.-Kat. Köln 2001) setzten es in den Umkreis des Petrus Christus, dem allerdings bislang nur eine Zeichnung sicher zugeschrieben werden konnte.(Anm.5)
Das Hamburger Blatt unterscheidet sich von der Wiener Fassung in erster Linie in dem jünger wirkenden Dargestellten. Dies ist allerdings Ergebnis späterer Überarbeitungen, denn die Grundierung und mit ihr die originale Silberstiftzeichnung sind stellenweise großflächig abgeplatzt. Dem fielen nicht nur die beiden Warzen links neben der Nase zum Opfer, sondern auch weite Partien im Bereich von Mund, Kinn, Hals und Kragen sowie an den Haaren rechts, die nachträglich, in verschiedenen Phasen retuschiert worden sind.
In das erste Drittel des 16. Jahrhunderts können die Ergänzungen in Feder datiert werden, deutlich zu erkennen an den gebogenen Schraffurlinien an Mund und Kinn. Auch die geschwungene Kontur der fleischigen Lippen, deren zufriedener Ausdruck sich deutlich von den abwärts geneigten Mundwinkeln der Wiener Zeichnung unter-scheidet, ist charakteristisch für die „Dürerzeit“.
Die in einer zweiten Überarbeitungsphase erfolgten Pinselretuschen sind am deut-lichsten zu erkennen im Bereich des um einen perspektivisch falschen Nagel ergänzten Mittelfingers der rechten Hand, der linken oberen Mützenpartie sowie in der Fehlstelle rechts neben dem Halsausschnitt.(Anm.6) Gleichzeitig oder später wurden großflächige Partien ebenfalls mit dem Pinsel überarbeitet: am Halsausschnitt, der linken Seite der Mütze, am Kinn und entlang der linken Gesichtskontur. Dies diente einerseits der Angleichung an den Ton der verbliebenen Grundierung, andererseits der Modellierung und Glättung der Umrisse.
Noch auf eine Deutung wartet die Geste der rechten Hand, die den Ärmel über das linke Handgelenk hebt oder einen stabartigen Gegenstand in den Fingern hält.

Annemarie Stefes

1 Wien, Grafische Sammlung Albertina, Inv.-Nr. 4845, Otto Benesch: Die Zeichnungen der Niederländischen Schulen des XV. und XVI. Jahrhunderts, Beschreibender Katalog der Handzeichnungen in der Graphischen Sammlung Albertina, Bd. 2, Wien 1928, Nr. 15.
2 Für den Hinweis auf dieses Bild danke ich Fritz Koreny (mündlich, 19. 4. 2005) und Elly Klück (mündlich, 1. 2. 2006).
3 Mündlich, 3. 9. 1919, gemäß Karteinotiz im Archiv des Kupferstichkabinetts.
4 Einzig von Erwin Pokorny wurde deren Zuordnung zur Niederländischen Schule nicht als zwingend vorausgesetzt (E-Mail, 29. 1. 2009, mit Bezug auf eine Digitalphotographie).
5 „Bildnis eines vornehmen Herren mit Jagdfalken“ in Frankfurt am Main, Städel Museum, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 725, Fritz Koreny, Erwin Pokorny, Georg Zeman: Altniederländische Zeichnungen von Jan van Eyck bis Hieronymus Bosch, Ausst.-Kat. Antwerpen, Rubenshuis, Antwerpen 2002, Nr. 12 (bearbeitet von Georg Zeman). Zu Unterzeichnungen des Petrus Christus vgl. Petrus Christus. Renaissance Master of Bruges, Ausst.-Kat. Metropolitan Museum of Art, New York 1994, Abb. 41, 67 und 68.
6 Zu diesem Ergebnis kamen Fritz Koreny und die Verfasserin bei einer gemeinsamen Untersuchung des Originals, 19. 4. 2005.

Details zu diesem Werk

Silberstift auf weiß grundiertem Papier; spätere Ergänzungen mit Feder in Braun und Pinsel in Graubraun 248mm x 189mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21926 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang

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