Ferdinand Bol, zugeschrieben
Rembrandt Harmensz. van Rijn, ehemals zugeschrieben

Sitzende Frau in einem Lehnstuhl, einen Brief in der Hand haltend

Harzen erwarb diese Zeichnung als Werk des Ferdinand Bol, doch galt sie seit ihrer Zuschreibung durch Benesch 1933/34 als Werk Rembrandts.(Anm.1) Ebenfalls von Benesch stammt die Gleichsetzung der Dargestellten mit Saskia van Uylenburgh; ihre Verlobung mit Rembrandt im Juni 1633 galt als Anhaltspunkt für die Datierung. Stilistisch wurde auf die Nähe zu Rembrandts frühen „Greisenstudien“ und dem Frankfurter „Lot“ von 1633 verwiesen.(Anm.2) Broos sah darüber hinaus eine funktionale Verbindung zu Rembrandts 1633 datiertem „Bildnis einer jungen Frau mit Fächer“ in New York.(Anm.3) Erste Zweifel an Zuschreibung und Identität äußerte Julia Lloyd Williams, die in der Titelgebung auf den Namen Saskias verzichtete und die Möglichkeit nicht ausschloss, dass es sich hier um eine von Rembrandt korrigierte Schülerzeichnung handelt.(Anm.4) Auch Holm Bevers notierte bei einem Besuch des Kupferstichkabinetts am 27. 6. 2003 Zweifel an der Zuschreibung und dachte bereits an die Hand des Ferdinand Bol.(Anm.5)
Leja (2004) zählte unsere Zeichnung zu einer Gruppe von frühen Arbeiten Bols, die sie als „Hybride“ bezeichnete aufgrund ihrer Verschmelzung von zeichnerischen Stilelementen Rembrandts mit rembrandtesken Gemäldemotiven einer anderen Werkphase.(Anm.6)
In der zeichnerischen Ausführung orientieren sich diese Blätter an Rembrandts frühen Figurenstudien der Leidener Zeit, womit indirekt die Beobachtungen Beneschs bestätigt wären.(Anm.7) Bei übereinstimmend dichter Schraffur manifestieren sich deutliche Unterschiede in der Modellierung: Zwar arbeiteten beide Künstler mit kräftigen Binnenkonturen, doch verraten Rembrandts Strukturlinien ein tiefes Verständnis für die anatomische Konstruktion der durch die Stoffe verdeckten Körper, während hier eher das Gegenteil der Fall ist: Das Gewand wurde als kompakte Masse verstanden, der die mehrfach aufgetragenen Konturlininen von außen Festigkeit und Stabilität verleihen; die Binnenkonturen wiederum wirken willkürlich, bisweilen ornamental verspielt.(Anm.8) Von Rembrandts Handschrift unterscheidet sich auch die wenig geglückte Kopf-Hals-Partie – der Kopf der Dargestellten wirkt gewissermaßen leicht nach rechts versetzt – und die ausgesprochen präzise Wiedergabe der Hände.(Anm.9) Als ausschlaggebend für die Zuschreibung an Bol betrachtete Leja die Wiedergabe der Gesichtszüge mit auffallend runden Pupillen, dem durch zwei parallele Linien unterschiedlicher Länge markierten Mund und der geraden Nase, wie sie ähnlich auf einem mit Feder gezeichneten Damenporträt Bols zu beobachten sind.(Anm.10)
Die von Rembrandt abgeleiteten zeichnerischen Ausdrucksmittel verschmolz der Künstler mit einem Haltungsmotiv, das auf eine später entstandene gemalte Vorlage zurückzuführen ist. Schon Schaar notierte im Hamburger Ausstellungskatalog von 1994 die kompositorische Verwandtschaft zu Rembrandts „Toilette der Esther“ in Ottawa, die von Leja als gegenseitig ausgerichtetes Modell für die vorliegende Zeichnung betrachtet wurde.(Anm.11) In Anbetracht der Tatsache, dass Bol sich für eine 1640/41 zu datierende Kopie des „Joseph“ stilistisch an Rembrandts New Yorker „Greisenstudie“ orientierte, hielt Leja auch für das Hamburger Blatt eine Entstehung in dieser Zeit für möglich.(Anm.12)
Lejas Argumente erscheinen stichhaltig, allenfalls ihrem Datierungsansatz könnten die Beobachtungen Marieke de Winkels entgegenstehen, die vergleichbare Kostüme auf Gemälden der späten 1640er Jahre beobachtete.(Anm.13) Nicht ganz geklärt ist auch die Funktion der Zeichnung. Handelt es sich lediglich um das Übungsstück eines fortgeschrittenen Schülers, zwischen Kopie und eigener Invention schwankend, wie von Leja vorgeschlagen?(Anm.14) Oder wäre nicht ebenfalls ein konkreter Porträtbezug denkbar?(Anm.15)

Annemarie Stefes

1 Otto Benesch: Unbekanntes und Verkanntes von Rembrandt, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, Neue Folge 2-3, 1933/34, S. 295-309, S. 295 hielt unser Blatt für „eine der großartigsten Bildniszeichnungen der Hamburger Kunsthalle“. Rembrandts Autorschaft wurde unabhängig davon auch erwogen von Fritz Saxl, vgl. ebd. S. 295, Anm. 1.
2 Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. KdZ 1151, Otto Benesch: The Drawings of Rembrandt, 6 Bde., London 1954-57, Bd. 1, Nr. 41; New York, Privatbesitz, ebd. Nr. 20; Haarlem, Teylers Museum, Inv.-Nr. O*50, ebd. Nr. 40; „Der trunkene Lot“, Frankfurt am Main, Städel Museum, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. 857, ebd. Nr. 82.
3 Broos, in: Great Dutch Paintings from America, bearb. v. Ben Broos, Ausst.-Kat. Den Haag, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis, San Francisco, Zwolle 1990; New York, Metropolitan Museum of Art, Inv.-Nr. 43.125, Geschenk von Helen Swift Neilson, 1943.
4 Lloyd-Williams, in: Julia Lloyd Williams: Rembrandt's Women, Ausst.-Kat. Edinburgh, National Gallery of Scotland, London, Royal Academy of Arts, München 2001.
5 Mitteilung per E-Mail, 25. 2. 2008.
6 Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 22–23 und 46. Zu dieser Gruppe der „Hybriden“ werden zuzüglich der Hamburger Zeichnung der „Stehende Orientale“ in Windsor Castle, Collection of Her Majesty the Queen, Inv.-Nr. 6516, Christopher White, Charlotte Crawley: The Dutch and Flemish Drawings of the fifteenth to the early nineteenth centuries in the collection of Her Majesty the Queen at Windsor Castle, Cambridge 1994, Nr. 317, und der „Lesende Apostel“, Klassik Stiftung Weimar, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. KK 5496, Bob van den Boogert: Goethe & Rembrandt. Zeichnungen aus Weimar. Aus den graphischen Beständen der Kunstsammlungen zu Weimar, ergänzt durch Werke aus dem Goethe-Nationalmuseum, Ausst.-Kat. Amsterdam, Museum Het Rembrandthuis, Amsterdam 1999, S. 47 gezählt.
7 Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 45.
8 Vgl. hierzu Julia Lloyd Williams: Rembrandt's Women, Ausst.-Kat. Edinburgh, National Gallery of Scotland, London, Royal Academy of Arts, München 2001 und Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 53.
Der „unrembrandteske“ Charakter dieser abstrakten, gleichsam schwebenden Strukturlinien wurde auch betont von Egbert Haverkamp Begemann und Peter Schatborn auf dem Symposium „Niederländische Altmeisterzeichnungen 1500 bis 1800“ am 21. und 22. 2. 2008 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
9 Auch dies wurde teilweise von Julia Lloyd Williams, in: Julia Lloyd Williams: Rembrandt's Women, Ausst.-Kat. Edinburgh, National Gallery of Scotland, London, Royal Academy of Arts, München 2001 beobachtet, ebenso wie von Peter Schatborn und Marian Bisanz-Prakken auf dem unter Anm. 8 zitierten Hamburger Symposium. Darüber hinaus beanstandete Schatborn die gleichmäßige beidseitige Schattenverteilung. Offensichtlich wurde diese Wirkung später korrigiert durch die Schattierung des linken Blattdrittels. Schatborn hielt diese Ergänzungen für eigenhändig, während Schaar, in: Eckhard Schaar: Rembrandt und sein Jahrhundert, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 1994, hier eine andere Hand am Werke sah.
10 Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr. KdZ 18533, Werner Sumowski: Drawings of the Rembrandt School. Bd. 1, Backer - Bol, hrsg. von Walter L. Strauss, New York 1979, Nr. 168; Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 54; auch das durch den festen Kontur betonte Oval der Wangen-Kinnpartie bei ähnlich gedrungener Proportion ist grundsätzlich vergleichbar.
11 Ottawa, National Gallery of Canada, Inv.-Nr. 6089, um 1632/33, Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 55 mit Verweis auf Übereinstimmungen in der Haltung von Händen und Füßen, dem bildauswärts gerichteten Blick, dem Arrangement von Haaren bzw. Schleier, und dem neben der Figur angedeuteten Tisch.
12 Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 56.
13 Zitiert, in: Julia Lloyd Williams: Rembrandt's Women, Ausst.-Kat. Edinburgh, National Gallery of Scotland, London, Royal Academy of Arts, München 2001, S. 96; die schwarze Farbe von Kleid und Schleier ist nicht als Trauerkleidung zu interpretieren, vgl. ebd. S. 253, Anm. 4.
14 Jan L. Leja: Ferdinand Bol and Rembrandt: Authorship and Iconography in Drawings of Biblical Subjects, c. 1636-1650, New York, Univ., Diss. 2004, S. 23 und 46.
15 Diese Frage wurde aufgeworfen von Robert-Jan te Rijdt auf dem Hamburger Symposium, siehe Anm. 8, mit Blick auf den für ein Porträt typischen zum Halbrund geformten oberen Rand und vor allem den Brief in der Hand der Dargestellten, einem „klassischen“ Porträt-Motiv. Letzteres wäre aber auch durch Inspiration einer Rembrandt-Radierung zu erklären: Auf die Nähe zu der „Großen Jüdischen Braut“ (H. 127), eine Schriftrolle in den Händen haltend, verwies Lloyd Williams in Julia Lloyd Williams: Rembrandt's Women, Ausst.-Kat. Edinburgh, National Gallery of Scotland, London, Royal Academy of Arts, München 2001, S. 96, betonte dabei aber gleichzeitig den Gegenwartsbezug unserer Zeichnung und setzte sie ebenfalls in Kontext mit gemalten Porträts.

Details zu diesem Werk

Schwarze und etwas weiße Kreide auf ehemals weißem, leicht gelblich getöntem Papier; oben links von anderer Hand mit schwarzer Kreide schraffiert; Einfassungslinien (schwarze Kreide) 265mm x 191mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21732 Sammlung: KK Zeichnungen, Niederlande, 15.- 19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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