Raffael, eigentlich Raffaello Santi oder Sanzio

Kopf eines Cherubs, um 1509

Die Studie eines Cherubs veranschaulicht Raffaels meisterhafte Kreidetechnik. Beeindruckend sind die für den Künstler typische, geradezu kalligraphische Sicherheit und funktionale Zweckmäßigkeit der Strichführung. Die um 1508–1512 entstandene Darstellung ist kaum nach dem Leben gezeichnet, sondern dürfte Raffaels idealtypische Vorstellung eines himmlischen Wesens widerspiegeln. Denkbar wäre eine Figur im Hintergrund eines Madonnenbildes (Madonna di Foligno oder Sixtinische Madonna). Sehr gut vorstellbar erscheint auch eine Verbindung zum Fresko der Disputa in der Stanza della Segnatura im Vatikan. Auch dort finden sich Engelsköpfe, die aus himmlischen Sphären herabschauen. Zudem verweisen die Weichheit der Kreidezeichnung und der flüssige Duktus zeichentechnisch auf die frühe römische Zeit des Künstlers.

David Klemm
Der von Raffael in flüssigen und weichen Linien gezeichnete Kopf eines Cherubs fasziniert auch mehr als 500 Jahre nach seiner Entstehung durch die Unmittelbarkeit der Wiedergabe. (Anm. 1) Die breiten, mit Kohle ausgeführten Linien sind in weiten Abständen angelegt und verdichten sich nur an Augen, Nase, Mund und Kinn. Abgesehen von den parallel gesetzten Linien im Halsbereich weisen die Züge unterschiedliche Krümmungen auf. Sie umspielen die Rundungen des Kopfes, so dass der Eindruck großer Lebendigkeit entsteht. Es scheint, als ob ein Luftstrom die lockigen Haare des Cherubs in Bewegung setze. Partiell wurde die verwendete Kohle verwischt, was die plastische Wirkung des Kopfes noch verstärkt. Im Halsbereich deuten lange Linien das Gefieder des himmlischen Wesens an. All dies ist souverän und mit wohlkalkuliertem Einsatz der zeichnerischen und technischen Mittel ausgeführt – man beachte etwa das bewusste Andeuten der Haarlocken oder die perfekt wiedergegebene Verkürzung des nach vorn geneigten Kopfes. Beeindruckend ist letztlich, wie konzentriert der Cherub wirkt – Raffael zeigt ihn in dem Moment, in dem er sich überaus ernsthaft seiner Aufgabe widmet, himmlischen Mächten zu dienen.
Die Cherubim waren im Alten Testament geflügelte Himmelswesen, zumeist mit Tierleib und menschlichem Antlitz. Sie gehörten zum Gefolge Gottes und wurden mit besonderen Aufgaben betraut.
In der Malerei stellte man sie seit dem Mittelalter als die mit Menschenkopf versehenen göttlichen Mächte der Kraft (auf einem Stierleib) und der Geschwindigkeit (über Flügeln) dar. Später wurde ihre Gestalt immer menschenähnlicher, häufig erschienen sie in großen Gruppen als Begleiter von göttlichen Ereignissen.
Dass es sich bei der vorliegenden Zeichnung tatsächlich um einen Cherub handelt, ist sehr wahrscheinlich aufgrund der bereits erwähnten gefiederähnlichen Schraffuren, die unterhalb des Kopfes zu erkennen sind.
Die vielleicht im Inventar der Sammlung Viti-Antaldi aus dem 17. Jahrhundert als Raffael erwähnte Zeichnung hatte der in Hamburg ansässige Sammler Georg Ernst Harzen dem Florentiner Künstler Fra Bartolommeo zugeschrieben. (Anm. 2) Später war das Blatt im Kupferstichkabinett als Arbeit eines unbekannten Meisters bezeichnet worden, bevor Oskar Fischel es 1928 erstmals als eigenhändige Zeichnung Raffaels identifizierte und der einschlägigen Forschung bekannt machte. Anm. 3) In der Folgezeit blieb die Studie zwar nicht unbestritten (Anm. 4), doch fand sie ohne Einschränkung Eingang in die großen Werkverzeichnisse von Knab/Mitsch/Oberhuber (Anm. 5) und von Joannides (Anm. 6). In jüngster Zeit ist die Zuschreibung an Raffael wiederholt bestätigt worden. (Anm. 7)
Für eine derartige Attribution spricht die meisterhafte Beherrschung der Kohle. (Anm. 8) Charakteristisch für Raffael sind die kalligraphische Sicherheit und funktionale Zweckmäßigkeit der Strichführung, aber auch die Unmittelbarkeit der Darstellung.
Es ist denkbar, dass die Studie nicht ausschließlich nach dem Leben gezeichnet wurde, sondern dass sie auch Raffaels idealtypische Vorstellung eines himmlischen Wesens widerspiegelt. (Anm. 9)
Knab/Mitsch/Oberhuber dachten an eine Entstehung der Zeichnung in der Florentiner Phase Raffaels, in der besonders zahlreiche Madonnenbilder mit begleitenden Engeln und Putti entstanden. (Anm. 10) Paul Joannides sah in dem Kopf eine Studie zu den Cherubim im Hintergrund der Sixtinischen Madonna in Dresden bzw. der Madonna di Foligno im Vatikan, beide um 1512 gemalt. (Anm. 11) Henrike Christiane
Lange stellte eine interessante Verbindung zu Raffaels zwischen 1509 und 1511 entstandener Disputa in der Stanza della Segnatura im Vatikan her. (Anm. 12) Auch dort finden sich Engelsköpfe, die aus den himmlischen Sphären herabschauen. Zudem weisen sie Flügelpaare auf, die wie auf der Hamburger Zeichnung direkt unterhalb des Kopfes ansetzen. Letztlich lassen sich hinsichtlich der besonderen Weichheit der Kohlezeichnung und dem flüssigen Duktus zeichentechnische Verbindungen zur frühen römischen Zeit des Künstlers herstellen. (Anm. 13) So ist durchaus vorstellbar, dass das Hamburger Blatt im Zusammenhang mit den umfangreichen Vorarbeiten für dieses Hauptwerk Raffaels entstanden ist.
David Klemm

Fischel 1913-1941, Abteilung VII (1928); S. 379-380, Nr. 367; Ausst.-Kat. Hamburg 1957, S. 15, Nr. 50; Joannides 1983, S. 204, Nr. 284, Abb. auf S. 204; Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S., Abb. 249, S. 579, Nr. 249; Ausst.-Kat. Hamburg 1997, S. 103-104, Nr. 47, Abb. auf S. 37 (Beitrag Eckhard Schaar), Ausst.-Kat. Hamburg 2001, S. 18, Nr. 4, Abb. auf S. 19 (Beitrag Andreas Stolzenburg); Ausst.-Kat. Hamburg 2008, S. 48, Nr. 18, Abb. auf S. 19 (Beitrag David Klemm); Klemm 2009, Bd. 2, S. 310-311, Nr. 454, Abb. Farbtafel S. 22 (mit älterer Lit.); Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 166-167, Nr. 44 (Beitrag Achim Gnann)

1 Vgl. hierzu die sensible Analyse von Achim Gnann in: Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 166.
2 „Una testina fatta di lapis negro, d’altezza un palmo due oncis, larghezza un palmo del medesimo“, zit. nach Ausst.-Kat. Hamburg 1997, S. 103.
3 Fischel 1913–1941, Abteilung VII (1928), S. 379–380, Nr. 367.
4 Vgl. Forlani Tempesti 2001, S. 153. Ursula Fischer Pace hält eine Entstehung der Zeichnung im Seicento für denkbar. Mitteilung anlässlich des Symposiums „Italienische Altmeisterzeichnungen 1450 bis 1800“ am 27. und 28. 10. 2005 im Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle.
5 Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, o. S. Abb. 249, S. 579, Nr. 249.
6 Joannides 1983, S. 204, Nr. 284.
7 Klemm 2009, Bd. 2, S. 310–311, Nr. 454; Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 166–167, Nr. 44.
8 Bis 2017 galt in allen Referenzwerken schwarze Kreide als das verwendete Zeichenmittel. Durch neuere, von Sabine Zorn durchgeführte und geleitete Untersuchungen konnte eindeutig Kohle als Zeichenmaterial bestimmt werden; vgl. den Beitrag von Sabine Zorn im Ausstellungskatalog „Raffael. Wirkung eines Genies“ 2021 S. 598–599.
9 Hamburger Kunsthalle 1989, S. 196, Nr. 434 (Beitrag Eckhard Schaar).
10 Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, S. 579, Nr. 249.
11 Joannides 1983, S. 204, Nr. 284.
12 Vgl. Lange 2003/04, vor allem S. 16–19.
13 Ausst.-Kat. Wien 2017, S. 166. BEZE

Details zu diesem Werk

Kohle; vollflächig kaschiert 298mm x 234mm (Blatt) Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett Inv. Nr.: 21592 Sammlung: KK Zeichnungen, Italien, 15.-19. Jh. © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang, CC-BY-NC-SA 4.0

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